die tyrannei der marken
Naomi Klein, Juni 2001(Übersetzung: Ralf Grauel)

Konzerne wie Nike und McDonald's verwandeln den Planeten in einen globalen Absatzmarkt. Doch gegen diese neuen Machtzentren formiert sich weltweiter Widerstand – Zusammenfassung des Buches "No Logo", ursprünglich in brandeins erschienen

Was soll man von den außergewöhnlichen Szenen halten, die sich während des Weltwirtschaftsgipfels in Seattle oder beim Weltwirtschaftsforum in Davos abspielten? Ein Reporter der »New York Times« meinte, die lautstarke Massenbewegung gegen die unregulierte Globalisierung hätte sich „über Nacht“ materialisiert. Im Fernsehen bekamen es die zuverlässigen Experten, die sonst alles erklären, nicht auf die Reihe, ob es sich um rechte Nationalisten oder marxistische Globalisten handelte. Sogar die amerikanische Linke wunderte sich, dass sie, entgegen früherer Berichte, offensichtlich noch existierte.

Trotz der scheinbar nicht zusammenhängenden Ursachen der Proteste, die in Seattle und Davos zusammentrafen, gab es ein gemeinsames Ziel: die multinationalen Konzerne im Allgemeinen und McDonald’s, The Gap, Microsoft und Starbucks im Besonderen. Ein profunder Wandel in den Prioritäten heutiger Konzerne verlieh diesen Bewegungen eine neue Energie und auch eine neue Dringlichkeit. Dieser Wandel dreht sich um die Idee des Corporate Branding, dem Streben der Konzerne nach dem stärksten Marken-Image: eines der prägenden Themen für die erste Dekade des 21. Jahrhunderts.

Branding

hört sich erst einmal harmlos an. Man knallt ein Logo auf ein Produkt und sagt, es sei das beste. Als die ersten Marken aufkamen, reichte das noch aus. Zu Beginn der industriellen Revolution war der Markt überschwemmt mit nahezu identischen Massenprodukten. Also kamen Aunt Jemima und Quaker Oats mit ihren hübschen behaglichen Logos und sagten: Unser Massenprodukt ist das mit der höchsten Qualität.

Doch die Rolle der Marke hat sich gewandelt, insbesondere im Laufe der vergangenen 15 Jahre. Heute ist sie weniger Garant für den Wert eines Produktes – die Marke selbst ist mehr und mehr zum Produkt geworden. Sie ist eine freibewegliche Idee, die auf unzählige Oberflächen aufgetragen wird. Das eigentliche, den Markennamen tragende Produkt ist zu einem Medium geworden, so wie das Radio oder Plakatwände. Die Botschaft lautet: Es ist Nike. Es ist Disney. Es ist Microsoft. Es ist Diesel. Es ist Caterpillar. Die Marke sei ursprünglich ein Qualitätszeichen gewesen, sagte der große Grafikdesigner Tibor Kalman, heute ist sie „eine stilistische Tapferkeitsmedaille“.

Dieser Wandel im Rollenverständnis der Marke entstammt einem Konsens unter den Konzernen, der in den späten Achtzigern aufkam. Konzerne seien zu aufgebläht, hieß es damals: Sie seien übergewichtig, besäßen zu viel und beschäftigten zu viele Menschen. Einst war die Produktion von Gütern das Hauptanliegen jedes Unternehmens. Doch nun schien die Produktion, also der Unterhalt eigener Fabriken und das Übernehmen von Verantwortung für zehntausende von Vollzeit-Arbeitskräften, plötzlich eine furchtbar schwere, nahezu unzumutbare Verpflichtung zu sein.

Also stellten die Nikes und Microsofts und später auch die Tommy Hilfigers und Intels die kühne Behauptung auf, Produktion sei nur ein zufälliger Bestandteil ihrer Betätigungen. Was diese Unternehmen primär produzierten, wären keine Dinge, sondern Ideen und Images für ihre Marken. Und ihre tatsächliche Arbeit bestünde nicht in der Manufaktur, sondern dem Aufbau ihrer Marken. Schlaue Werbeagenturen bezeichneten sich fortan als Marken-Fabriken und hämmerten die wahren Werte aus dem Rohling Marke: die Idee, den Stil, die Haltung. Aus diesen berauschenden Tagen lernen wir heute noch immer:

Nike macht „Sport“, keine Schuhe,

Microsoft „Kommunikation“ und nicht Software; Starbucks produziert „Gemeinschaften“ und nicht Kaffee. Und Virgin ist keine Fluggesellschaft, keine Plattenfirma, keine Cola, kein Label für Brautkleider oder welche Markenerweiterung das Unternehmen auch immer lancierte – Virgin ist eine „spaßbetonte Einstellung“. Mein Liebling ist Diesel, dessen Vorstandschef erklärte, er hätte „eine Bewegung“ kreiert und nicht etwa eine Bekleidungslinie.

All diesen markengesteuerten Unternehmen liegt in etwa dieselbe Formel zugrunde: „Schnell weg mit diesen Gewerkschafts-Fabriken im Westen – kaufe deine Produkte lieber bei asiatischen oder südamerikanischen Vertragspartnern oder Zwischenhändlern. Dann nimm das gesparte Geld und gib es für deine Marke aus – für Werbung, Marken-Superstores und Sponsoring.“ Aufgrund des überwältigenden Erfolgs dieser Formel besteht die Welt der Konzerne mittlerweile aus einer Art Wettkampf um die Schwerelosigkeit: Die Unternehmen, die am wenigsten besitzen, die am wenigsten Beschäftigte halten und die die coolsten Ideen (im Gegensatz zu Produkten) produzieren, gewinnen das Rennen. Solche Unternehmen kommen mir wie transzendente Marken vor, deren Ziel darin besteht, nahezu allem zu entfliehen, das irdisch erscheint, und die sich stattdessen zur reinen Idee vergeistigen, wie eine Seele, die gen Himmel steigt. So ein Unterfangen ist übrigens nicht nur für Marken, sondern auch für Menschen erreichbar. Es gibt menschliche Marken, genauso wie unternehmerische Marken, die ebenfalls jegliche Verbindung zu dem, was man gemeinhin als „Sachen machen“ bezeichnet, aufgegeben haben. Bill Gates hat als CEO von Microsoft gekündigt, sodass er nun seiner wahren Mission nachgehen kann:

Bill Gates sein.

Michael Jordan spielt kein Basketball mehr, er ist zur reinen Markenidentitäts-Maschine geworden. Nicht nur besitzt er bereits eigene „Jordan“-Superstores, er ist auch der erste Lizenz-Prominente, der andere Prominente dazu bringt, Lizenzen auf seinem Label zu unterzeichnen. Michael Jordan hat aufgehört, ein Athlet zu sein. Er ist eine „Attitüde“, eine Haltung.

Die tatsächlichen Ausmaße dieses Wandels wurden erst durch die Explosion der Internet-Aktien offenkundig, die den totalen Triumph des Branding markierten. Das war der Aufstieg von Unternehmen, von denen die meisten noch beweisen mussten, dass sie in der Lage sind, Profit zu erwirtschaften, die fast ausschließlich Ideen ihrer selbst waren und in der realen Welt kaum eine Spur hinterlassen hatten. Was sie an der Börse verkauften, war reinste, ungepanschte Marke.

Der Wandel zum Branding erklärt viele der wirtschaftlichen und kulturellen Erscheinungen des letzten Jahrzehnts. Denn ein markengesteuertes Unternehmen erreicht seine Macht nicht per se durch die Ansammlung von Werten. Es muss seine Markenidee auf so viele kulturelle Oberflächen wie nur eben möglich projizieren:

auf die Wand einer Hochschule,

einem Plakat von der Größe eines Wolkenkratzers oder einer Anzeigenkampagne, die über die menschliche Zukunft des Globalen Dorfes philosophiert. Die vorige Generation der Wirtschaftsgiganten benutzte Bohrer, Hämmer und Kräne zur Errichtung ihrer Imperien. Die neuen Unternehmen brauchen eine endlose Schar neuer Ideen für ihre Markenerweiterungen, ein sich kontinuierlich verjüngendes Image für ihr Marketing und vor allem: frische unverbrauchte Räume, um dort die Markenidee von sich selbst auszubreiten.

So werden wirtschaftliche Phantome real. Stellen Sie sich ein markengesteuertes Unternehmen als einen sich ständig ausbreitenden Ballon vor. Öffentlicher Raum, neue politische Ideen und avantgardistisches Image sind das Gas, mit dem er sich füllt.

Die Marke muss kulturellen Raum konsumieren, um zu verhindern, dass sie schrumpft.

Das ist neu. Klassischerweise bestand Marketing aus Assoziation: Schönes Mädchen trinkt Soda, benutzt Shampoo, fährt Auto. Soda/Shampoo/Auto werden mit unserem Streben assoziiert, so hübsch zu sein wie sie. Assoziationen reichen nicht mehr, der Markenwahn hat all das verändert. Die Marken von heute wollen ihre Markenidentitäten zum Leben erwecken, sie sollen Teil der realen Welt werden, lebende Manifestationen ihrer Mythen. Marken sind Bedeutung und nicht Produktattribute. Also versorgen Unternehmen ihre Kundschaft nicht nur mit massig Gelegenheiten, die volle Bedeutung ihrer Marke kennen zu lernen, sondern sie zu erleben. Der Markennamen-Superstore zum Beispiel steht für die volle Entfaltung des Lifestyle einer Marke. Viele dieser Läden sind so palastartig, so interaktiv und Hightech, dass sie offenkundig Geld verlieren. Aber das heißt nicht, dass sie nicht funktionieren. Da sie nie die alleinige Verkaufsquelle des Unternehmens sind, ist ihre wirkliche Aufgabe, als 3D-Manifestation der Marke zu fungieren. Die eher banalen Produkte zeigen wie Zielfernrohre auf die Größe der Marke.

Doch das ist nur der Anfang. Nike, das vormals Athleten sponserte, kauft nun komplette Sportveranstaltungen. Disney, das mit seinen Filmen und Themenparks eine abgelaufene Version Kleinstadt-Amerikas verkaufte, besitzt und unterhält nun eine Kleinstadt, Celebration, Florida. In diesen Markenschöpfungen können wir die ersten Wohnblöcke einer total privatisierten sozialen und kulturellen Infrastruktur erkennen. Die Unternehmen dehnen den Stoff ihrer Marken in derart viele Richtungen, dass sie sich in zeltartige Enklaven verwandeln, groß genug, um jegliche Anzahl von Kernaktivitäten zu behausen, vom Shopping, über Entertainment bis zum Urlaub.

Dies ist die wahre Bedeutung des Begriffs „Lifestyle-Marke“: Der Kunde soll sein Leben in der Marke führen.

Markenbasierte Unternehmen sind nicht mehr damit zufrieden, mit ihren Kunden gelegentlich auf Tuchfühlung zu gehen, sie wollen gleich zusammenziehen. Die Unternehmen sind ständig auf der Suche nach neuen kreativen Wegen, ihr Marken-Image zu stärken und auszubauen. Die Jagd nach Bedeutsamkeit und

jungfräulichem öffentlichem Raum

hinterlässt ihre Spuren in öffentlichen Einrichtungen, wie zum Beispiel Schulen. In Nordamerika verändern wirtschaftliche Interessen das Erziehungssystem. Es wird nicht nur versucht, in Mensen und Umkleideräumen zu werben – die Marke selbst wird unkritisches Unterrichtsthema. Mathe-Bücher fordern Schüler dazu auf, den Kreisumfang eines Oreo-Kekses zu berechnen. Channel One sendet Burger-King-Werbung in 12000 Schulen. Ein Schüler in Georgia flog 1999 von seiner Schule, weil er ein Pepsi-T-Shirt am offiziellen „Coke-Day“ trug.

Ein anderer Effekt des Markeneinflusses ist die Beschränkung der Auswahl. Marken sind im Kern selbstsüchtige Wesen, sie müssen Wettbewerber ausschalten und hermetische Markensysteme errichten. So schließt Reebok, sobald es einen Sponsoringdeal für Hochschulathletik landet, nicht nur konkurrierende Marken aus, sondern, wie im Fall der Universität von Wisconsin, untersagt auch alle herabwürdigenden Bemerkungen von Angestellten der Schule über die Marke Reebok. Solche „Nicht-Herabwürdigungs“-Klauseln sind in Uni-Sponsorship-Verträgen Standard. Nachdem Disney ABC gekauft hatte, beschloss man, dass ABC News nicht weiter über Disney-Skandale berichten, sondern lieber die neuen Filme „synergetisch“ promoten solle. Freuen wir uns auf mehr, wenn demnächst AOL und Time Warner nach ihrem Merger

synergetische Felder aktivieren.

Es gibt einen weiteren Effekt des Wandels vom Produkt zur Marke, etwas fassbarer als die anderen: die Entwertung der Produktion selbst. Aktuell verändert der Glaube, dass wirtschaftlicher Erfolg aus Markenbildung besteht – Produktion ist lediglich ein abgeschlagener Sekundant – die globalen Arbeitsmärkte.

Der Aufbau einer Supermarke ist außergewöhnlich teuer. Eine Marke benötigt konstante Aufmerksamkeit, Pflege, Erneuerung und Ausdehnung. Marketing benötigt reichhaltige Ausgaben, dementsprechend groß ist der Widerstand, in Produktionsstätten und Arbeit zu investieren. Unternehmen, die sich bisher mit Steigerungsraten von 100 Prozent zwischen den Kosten ihrer Werksproduktion und dem Einzelhandelspreis zufrieden gaben, waren in den vergangenen zehn Jahren damit beschäftigt, den Globus nach Fabriken abzugrasen, die ihre Produkte so billig produzieren können, dass die Steigerungsrate derzeit 400 Prozent beträgt.

An dieser Stelle kommen die Freihandelszonen der Entwicklungsländer ins Spiel (frei bedeutet hier: frei von Steuern oder gar Lohn- und Arbeitsregulierungen). In Indonesien, China, Mexiko, Vietnam, den Philippinen und anderswo entwickeln sich die exportverarbeitenden Zonen (wie diese Gebiete genannt werden) zu führenden Produzenten von Kleidung, Spielzeug, Schuhen, Elektronik und Autos. Weltweit existieren rund 1000 solcher Zonen, sie umfassen über 70 Länder mit 27 Millionen Arbeitern.

Hinter den Toren dieser Zonen setzen die Arbeiter die Fertigprodukte unserer Markenwelt zusammen: Nike-Laufschuhe, Gap-Pyjamas, IBM-Computerbildschirme oder VW Käfer. Dennoch scheinen diese Zonen die einzigen Orte auf der Welt zu sein, an denen sich die Marken halbwegs bedeckt halten. Sie wirken sogar geradezu nüchtern. Nirgendwo sieht man Namen oder Logos quer über die Fassaden gepinselt. Und wo genau ein bestimmtes Markenprodukt hergestellt wird, bleibt oft geheim. Im Gegensatz zu den nach Marken sortierten Superstores, werden hier konkurrierende Labels oft Seite an Seite in derselben Fabrik produziert, von denselben Arbeitern zusammengeklebt, auf denselben Maschinen genäht und gelötet. Egal, wo diese Zonen sich befinden, die Stunden sind lang:

14-Stunden-Tage in Sri Lanka, 12-Stunden-Tage in Indonesien, 16-Stunden-Tage im südlichen China, 12-StundenTage auf den Philippinen.

Die Arbeiter sind meist junge Frauen, das Management militärisch, die Löhne unter dem Minimallohn, die Arbeit auf unterstem Niveau und eintönig. Die Fabrikbesitzer sind Unternehmer und Subunternehmer aus Korea, Taiwan oder Hongkong, sie folgen Anweisungen von Unternehmen aus den USA, Großbritannien, Japan, Deutschland und Kanada.

Diese Industrienischen sind umgeben von einem Nebel aus Ungenauigkeit und Aufbruch. Die Lizenverträge kommen und gehen ohne Vorwarnung (in Guatemala heißen die Fabriken „Schwalben“, da sie jederzeit fortziehen könnten). Die Arbeiter sind vorwiegend Migranten, fern von zu Hause, sie haben kaum eine Verbindung zu dem Ort, an dem sie sich wiederfinden. Die Arbeitsverträge sind von kurzer Dauer und werden selten erneuert. Viele Fabrikarbeiter auf den Philippinen werden von Beschäftigungsfirmen aus den Zonen angeheuert, sie sammeln die Lohnschecks ein und kassieren Anteile – in anderen Worten:

Zeitarbeitsfirmen für Fabrikarbeiter.

Gemeinhin tendieren wir in der westlichen Welt zu der Annahme, Globalisierung bewege Arbeitsplätze von einem Kontinent zum anderen. Doch innerhalb einer markenbasierten Wirtschaft fällt der Wert von Arbeit innerhalb der Konzernhierarchie drastisch auf eine der untersten Stufen. Bei der unablässigen Jagd nach Reduzierung von Produktionskosten bleibt das fordistische Prinzip auf der Strecke: Arbeit erzeugt nicht nur Produkte, sondern dadurch, dass man Arbeitern anständigen Lohn bezahlt, entsteht der Absatzmarkt für diese und ähnliche Produkte. In Indonesien leben die jungen Fabrikarbeiterinnen, die Nike-Schuhe und Gap-Jeans machen, kaum über dem Standard von Hungerleidenden und landvertriebenen Bauern. Obschon der Vergleich mit den relativ privilegierten Angestellten im Einzelhandel der westlich Einkaufszentren unangebracht scheint, findet sich doch bei beiden dasselbe Muster. In den Industrienationen sind die Jobs ebenfalls zunehmend befristet, teilzeitorientiert und selbstständig.

Genauso wie Fabrik-Jobs, die im Westen einst ganze Familien ernährten, zu Teenager-Jobs in Entwicklungsländern umgestaltet wurden,

so waren Restaurantketten und Hersteller von Markenkleidung – Wal-Mart, Starbucks, The Gap – Vorreiter, wenn es darum ging, Jobs im Fastfood- und Einzelhandelsbereich als zu schnelllebig und unbrauchbar für Erwachsene darzustellen.

Wir befinden uns in einem sonderbaren Widerspruch: Nie waren Marken in unserem Leben so allgegenwärtig, noch haben sie jemals so viel Reichtum produziert. Um uns herum sehen wir lauter neue Markenschöpfungen, die kulturelle Institutionen und öffentlichen Raum ersetzen. Und dennoch sind diese Unternehmen zur gleichen Zeit auf eine der unmittelbarsten Weisen an unserem Leben seltsam unbeteiligt: nämlich als dauerhafte Arbeitgeber. Einst identifizierten sich die Weltkonzerne untrennbar mit ihrer Rolle als Motoren des Wachstums nationaler Arbeitsmärkte – und benutzten das als Zugang, um alle möglichen Arten staatlicher Unterstützung zu bekommen – nun identifizieren sie sich lieber als Motoren des „Wirtschaftswachstums“.

Die Ausmaße dieses Wandels sind nicht zu unterschätzen. Unter den Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter in den USA, Kanada und Großbritannien ist die Zahl derjenigen mit Vollzeit-Jobs und Dauerstellung, die also für jemand anderen arbeiten als für sich selbst, in der Minderheit. Zeit-, Teilzeitarbeiter, Arbeitslose und solche, die sich gänzlich aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen haben – sei es, weil sie nicht arbeiten wollen oder weil sie es aufgegeben haben, nach Arbeit zu suchen – machen nun die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter aus.

Wie wir wissen, erbringt diese Formel kurzfristig Rekordprofite. Sie könnte sich jedoch als strategische Fehlkalkulation herausstellen. Wo Unternehmen als funktionierende Vehikel für die Distribution von Wohlstand verstanden werden – Arbeit und Steueraufkommen verteilend – ernten sie dafür tief gehende bürgerliche Loyalität. Im Austausch für regelmäßigen Lohn und stabile Sozialgefüge verbünden sich Bürger mit den Interessen und Schicksalen des lokalen Wirtschaftssektors und stellen nicht zu viele Fragen über, sagen wir mal, Wasserverschmutzung. Mit anderen Worten: Verlässliche Arbeitsplätze dienten als eine Art Rüstung, die die Unternehmen vor dem Zorn abschirmte, der sich möglicherweise gegen sie gerichtet hätte. Doch haben die markengesteuerten multinationalen Konzerne, ohne dass sie das bemerkt hätten, eben genau diese Rüstung abgelegt: Zuerst kam ihre

Unfähigkeit,

öffentlichen Raum zu respektieren, dann der Betrug des zentralen Versprechens des Informationszeitalters – das Versprechen nach mehr Auswahl – und zum Schluss durchtrennten sie die Bindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie mögen groß sein, und auch reich, doch plötzlich gibt es nichts mehr, was sie vor dem Zorn der Öffentlichkeit schützt.

Darin besteht die echte Tragweite von Seattle und Davos. Um uns herum sehen wir die frühen Anzeichen dieser Wut: erste, oft grob markierte Verteidigungslinien gegen die Herrschaft der Marken. Wir beobachten zum Beispiel den Anstieg des „culture jammings“, das die unternehmenseigenen Anzeigen adaptiert, um Botschaften zu senden, die sich krass von deren ursprünglicher Intention unterscheidet. So wird zum Beispiel Apple Computers

„Think Different“-

Kampagne auf ein Bild von Stalin mit dem Slogan

„Think Really Different“

angewandt. Solche Prozesse zwingen die Unternehmen buchstäblich dazu, die Kosten für ihre eigene Unterwanderung zu übernehmen, denn das Unternehmen hat ja die vereinnahmte Plakatwand bezahlt. Bildlich gesprochen, zapft jedes verunstaltete Logo die enormen Ausgaben an, die getätigt wurden, um eben dieses Logo mit Bedeutung aufzuladen.

Ich war nie gänzlich von der Kraft des „culture jammings“ überzeugt: Einen Krieg, der ausschließlich mit Bildern geführt wird, gewinnt doch sicher derjenige mit den meisten Bildern, oder nicht? Doch die Prinzipien des „culture jammings“ – die Macht eines Markennamens als einen Markenbumerang gegen sie anzuwenden – werden für viel direktere und unmittelbarere politische Auseinandersetzungen importiert. Der große globale Wirtschaftskampf wird aktuell so ausgetragen, dass sich Menschen auf ein oder zwei Markenkonzerne fokussieren und sie auf den Maßstab politischer Metaphern vergrößern. Diese Strategie erscheint immerhin Erfolg versprechender als die Jahrzehnte der politischen Auseinandersetzung auf Regierungsebene.

Denken Sie nur an die Kampagnen, die die Reiserouten von Markenartikeln bis zu ihren unmarkenhaften Ursprüngen zurückverfolgen: Nike-Turnschuhe in die Fabriken nach Vietnam; Starbucks Milchkaffee bis zu den sonnenverbrannten Felder in Guatemala oder wie jetzt Ost-Timor. Und

fast jede Zutat eines Burgers von McDonald’s analysierten sie hinab bis zu ihren gentechnischen Ursprüngen.

Es gibt einen klaren Unterschied zwischen diesen Kampagnen und den Konzernboykotten der Vergangenheit, sei es gegen Nestlé wegen ihrer Babyformel oder gegen Union Carbide für den berüchtigten Giftunfall im indischen Bhopal. In jenen Fällen gingen Aktivististen gegen Konzerne vor, die in außergewöhnlich gefährliche Praktiken verstrickt waren. Die Anti-Konzern-Kampagnen von heute jedoch nutzen die hochgezüchteten Markenprofile ihrer Gegner lediglich als taktisches Trittbrett, um schwierige, teilweise sogar obskure Themen zu beleuchten. Die Unternehmen, die dem ausgesetzt sind – Disney, Mattel, The Gap und so weiter – haben sich nicht immer der schlimmsten Vergehen schuldig gemacht. Aber sie sind diejenigen, die ihr Logo auf der globalen Markise im strahlendsten Licht ausrollen. Es könnte unfair sein, solche Unternehmen ihres „Erfolgs“ wegen auszusondern, wie manche argumentiert haben, doch hat sich gerade dieser Erfolg in eine sonderbare Art der Verpflichtung verwandelt.

Nehmen Sie McDonald’s. Die Eröffnung von 23000 Filialen hat mehr als nur das Hohelied der schnellen, uniformen Nahrung verbreitet. Sie wird in der Öffentlichkeit auch unausweichlich mit

McJob, McDonaldization, McWorld

gleichgesetzt. Wenn also Aktivisten eine Bewegung um McDonald’s herum aufbauen, wie sie das im Falle des McLibel-Prozesses getan haben, verfolgen sie nicht unbedingt eine Fast-Food-Kette. Das Ganze an der Marke hinter der Kette aufzuzäumen ist vielmehr ein Mittel, die Diskussion über die ansonsten undurchdringliche globale Wirtschaft zu eröffnen: über Wirtschafts-, Umwelt- und Kulturimperialismus.

Viele Super-Marken spüren den Rückschlag. Mit der typischen Untertreibung stellt Mark Moody, CEO von Royal Dutch Shell, fest: „Früher, wenn Sie in Ihren Golfclub oder zur Kirche gingen und sagten, ich arbeite für

Shell,

bekamen Sie eine warmherzige Begrüßung. In einigen Teilen der Welt hat sich das ein wenig geändert.“ Diese Veränderung ist ein direktes Resultat der Anti-Konzernkampagne, die gegen Shell nach der Hinrichtung des nigerianischen Autoren und Aktivisten Ken Saro Wiwa geführt wurde. Wiwa hatte versucht, Shell zu bewegen, die Umweltzerstörungen zu beseitigen, die sie zurückließ, nachdem sie Öl aus dem Nigerdelta gepumpt hatte. Hätten sich die Aktivisten einzig auf die Diktatur konzentriert, wäre der Tod von Ken Saro Wiwa lediglich eine weitere anonyme Gräueltat in Afrika geblieben. Aber weil sie sich trauten, Namen zu nennen – nämlich Shell als wirtschaftlichen Interessenten an der Gewalt – wurde daraus eine sofortige globale Kampagne mit Protesten an Tankstellen weltweit.

Die Marke war der wichtigste Wert der Kampagne.

Vergleichbares geschah bei einer Kampagne gegen das brutale Regime in Burma, fast alle der großen Markenartikler haben sich mittlerweile aus dem Land zurückgezogen. Die Kampagne gegen Monsanto – die ihre Pläne für eine Art genetisch veränderten „Terminator-Samen“ aufgaben, die nur einen Fruchtstock übrig gelassen hätten – konnte funktionieren, weil sich der Druck gegen die stark markenabhängigen Supermärkte und die Nahrungsmittelhersteller richtete.

Im Herzen dieser Fokusveränderung liegt die Erkenntnis, dass Konzerne viel mehr sind als die Hersteller der Produkte, die wir alle begehren.

Konzerne sind die größten politischen Kräfte unserer Zeit,

die Triebkräfte hinter solchen Körperschaften wie der World Trade Organisation (WTO). Wir alle kennen die Statistiken, die zeigen, dass Konzerne wie Shell und Wal-Mart Umsätze einfahren, die größer sind als die Bruttosozialprodukte der meisten Nationen. Dass von den Top-100-Wirtschaftsmächten 51 multinationale Konzerne sind und 49 Nationen. Wenn also Medien solche Kampagnen wie die gegen Nike als „Verbraucherboykott“ bezeichnen, trifft das nur die halbe Wahrheit. Es wäre genauer, sie als politische Kampagnen zu bezeichnen, die Verbrauchsgüter als leicht zugängliche Ziele benutzen, als PR-Hebel und als Werkzeuge, komplexe Themen populär darzustellen.

Ich bezweifle, dass die aktuelle Welle des Antikonzern-Aktivismus ohne den Markenwahn möglich gewesen wäre. Wie wir gesehen haben, bauen Marken eine sehr geradlinige Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer auf, die sich – durch den Versuch, Marken zu Medienlieferanten, Kunstproduzenten, Marktplätzen und Sozialphilosophen zu machen – mittlerweile in etwas sehr Intimes verwandelt hat. Doch je erfolgreicher dieses Näheprojekt ist, desto verwundbarer werden die Unternehmen dem Markenbumerang gegenüber. Wenn Marken tatsächlich eng mit unserer Kultur und Identität verwoben sind, so werden ihre Verbrechen nicht einfach als Fehltritte eines Unternehmens verziehen, das irgendwie eine Mark machen muss. Zu viele Menschen bewohnen diese Markenwelten, sie fühlen eine gewisse Komplizenschaft in diesen Vergehen, sie sind verbunden und schuldig zugleich. Und diese Beziehungen sind flüchtig, verwandt mit der Beziehung zwischen Fan und Star: emotional intensiv, doch oberflächlich genug, sich beim kleinsten Anzeichen zu ändern.

Branding ist, wie gesagt, eine Ballonwirtschaft.

Sie bläht sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf, doch ist sie voll heißer Luft. Es ist also nicht verwunderlich, dass diese Formel Armeen nadelschwenkender Kritiker auf den Plan gerufen hat, die sich nichts sehnlicher wünschen, als diese Unternehmensballons platzen und zu Boden stürzen zu lassen.

Hinter den Protesten in Nike-Town, hinter der Torte in Bill Gates Gesicht, hinter dem eingeworfenen McDonald’s-Fenster in Paris und hinter den Protesten in Seattle und Davos steckt zu tiefe Abneigung, als dass ihr mit den herkömmlichen Methoden beizukommen wäre.

Es zieht eine mächtig schlechte Stimmung auf.

Die Entführung politischer Macht durch Konzerne ist genauso verantwortlich für diese Stimmung wie die Plünderung öffentlicher und geistiger Räume durch Marken.

Weltweit machen sich Aktivisten freizügig das Werkzeug zu Eigen, dass die Fantasie der Konzerne so sehr in Bann hielt: Branding. Marken-Image, die Quelle des Reichtums, ist auch, wie sich herausstellt,

die Achillesferse der Konzerne
.


Vielen Dank an Naomi Klein und brandeins für die Verwendung des Textes auf dieser Site!

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