nachdenken
über ein 126 Jahre dauert nun schon das Experiment eines deutschen Nationalstaates mitten in Europa. Manch berühmtes Experiment, das eine blödsinnige Theorie beweisen, ja krönen sollte, scheiterte und gebar die neue bessere Theorie. Genug mit diesem arschblöden Land, das sich anschickt, sich in ein gigantisches spießiges Fertighaus zu verwandeln, langweilig, abwaschbar und völlig kompatibel mit der "neuen Weltordnung". Kritiker sind seit 126 Jahren neidschürende, stänkernde Arschlöcher, und Jasager seit 126 Jahren gesunde Realisten. Deutschland spaltet sich wieder in zwei Lager, die sich zunehmend nervöser, mit zuckenden Mundwinkeln gegenüberstehen: Globalisierungsverweigerer und Globalisierungspusher. Das Muster kennen wir schon. Wie einst Faschisten und Kommunisten. Noch passiert nichts. Soll wir uns darüber freuen, daß noch keine Straßenschlachten stattfinden? Daß nur ein paar Metaller, zu allem Überfluß von nicht gerade weitsichtiger Gralshüterei beseelt, sich aus der allgemeinen Apathie erheben? Oh dieses arschblöde Land, wie es in seiner spießigen Lähmung verharrt, ohne Ironie, ohne Größe und Würde. Doch woher sollen diese kommen? Genügt doch ein einziges Buch, den verqueren Charakter dieses Landes in kurzer Zeit wieder ans Tageslicht zu bringen. Der Holocaust: Man versucht ihn zu ignorieren, ja in Frage zu stellen, man benutzt ihn zum rituellen Zivilisationsschmerz, kasteit sich mit ihm wie mit harten Ruten, um sich seiner Unwürdigkeit im Angesicht der europäischen Aufklärung zu versichern, schwingt sich dann gar zum Experten für Schuldempfindungen auf, die niemand auch annähernd nachempfinden kann (quasi als Spiegelbild zum Monopol der ultimativen Schmerzempfindungen, das die jüdische Gegenwartskultur prägt). Wie kommt es, daß die politische Klasse Deutschlands, gleich ob es sich um Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich, Bonner oder Berliner Republik handelt, immer versucht hat und nach wie vor versucht, den deutschen Spießer, der in dieser Form seinesgleichen in Europa sucht, zur Norm zu erheben? Sämtliche sozialistischen Ideen, die nicht unerheblich von deutschen Köpfen formuliert wurden, als undeutsch und von fremden Mächten injiziert darzustellen? Den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur als unerheblich abzutun und folglich die Vernichtung der Juden als Mord an einem fremden Volk zu betrachten, der mit der Verkümmerung des deutschen Geisteslebens seit 1933 gar nichts zu tun hatte? Schließen sich Deutschsein und Judesein aus? Waren große Köpfe in Deutschland etwa alle Katholiken oder Protestanten? Warum begreifen so wenige die DDR als deutsches Phänomen, ja als folgerichtige Entwicklung deutscher Geistes- und Politikgeschichte? Sowjetische Besatzungszone - war das die ganze Wahrheit? Alles aus dem finsteren Kreml importiert? Warum hat die Linke der etablierten politischen Klasse das Feld immer kampflos überlassen, wenn es um deutsches Selbstverständnis ging? Das andere, komplementäre Deutschland, ohne das unsere Geschichte undenkbar ist, nicht als Selbstverständlichkeit propagiert? Warum können revolutionäre oder geniale Denker die deutsche geistige Tradition erst bestimmen, wenn sie schon mindestens hundert Jahre tot sind? Gute Intellektuelle sind also tote Intellektuelle? Heißt Deutschsein: Im Schrebergarten mit Volksmusik und einem grotesken Stolz auf Schiller und Goethe in guter Laune, aller Konjunktur zum Trotz, durchzuhalten? Mit Kaiser und Gott? Mit Kanzler und Gott? Mit Kanzler und ohne Gott, dafür aber mit Konsum? Oh dieses arschblöde Land, in dem die Luft allmählich wieder zum Schneiden dick wird. Wir sind es leid, in der ganzen Welt mit Hitler, Lothar Matthäus und Mercedes Benz identifiziert zu werden. Von vorneherein für sauber, ordentlich, fleißig, effizient, langweilig und humorlos gehalten zu werden. Was nützt es, daß die Schweizer diese Eigenschaften angeblich noch viel stärker verkörpern? Wenn ich an Deutschland denke, fallen mir auch Georg Büchner, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Carl von Ossietzky, John Heartfield, Hanna Höch, Georg Elser, Sophie und Hans Scholl, Rudi Dutschke, Heiner Müller... ein - um nur ein paar zu nennen. Das ist Deutschland. Aber es wird nur hinter vorgehaltener Hand erwähnt. Wir sollen uns an den Freiherrn vom Stein, Otto von Bismarck, Wilhelm Röntgen, Friedrich Ebert, Heinrich Brüning, Werner Heisenberg, Graf Stauffenberg, Konrad Adenauer, Heinz Rühmann... erinnern. Irgendwie lohnt es sich jetzt nicht mehr, noch eine Nation werden zu wollen. Der Knoten der kleinlichen Verstrickungen läßt sich nicht mehr aufknüpfen. Es reicht. Eine Lichtblick bleibt: Die europäische Einigung. |