an der kreuzung

Der Kapitalismus hat die ideologische und politische Schlacht des blutigen 20. Jahrhunderts gewonnen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts gibt es keine Alternativen zu ihm. Sämtliche Staaten werden nach assimiliert, selbst das offiziell kommunistische China wird in Kürze der Welthandelsorganisation beitreten und bei der Jagd nach Profit sich künftig an einige internationale Gepflogenheiten halten. Die Beschwörung der Marx-Jünger durch die vergangenen Jahrzehnte hindurch, der Kapitalismus sei definitiv in seiner Endphase und stehe kurz vor dem Zusammenbruch, klingen hohl nach. Sich zum Online-Kapitalismus wandelnd, steht er fest wie nie, ein gewaltiges System, das keine Geschichtlichkeit mehr kennt, sondern in einem Beschleunigungskult der puren Gegenwart huldigt, in der alles möglich und greifbar scheint. Keine Mode der Vergangenheit ist obsolet, da Vergangenheit nicht mehr existiert. Selbst wir, die wir uns in unserer Abscheu vor den Folgen der Beschleunigung des lebens und der “Flexibilisierung” aller Strukturen Kritiker nennen, müssen feststellen, daß wir zu kraftlos sind, an Morgen zu denken, zu erlebnissüchtig, um uns am Gestern abzuarbeiten. Das Bewußtsein, ganz heute zu leben ohne einen Blick auf Sicherheiten für den Rest des Lebens, mag noch vor einigen Jahrzehnten wie schiere Auflehnung gewirkt haben, jetzt ist es eine allgemeine Haltung.

Und doch gibt es eine noch Opposition gegen das produktivste Wirtschaftssystem aller Zeiten, in dem die Armen in seinen Zentren materiell besser leben als manche Eliten vergangener Jahrhunderte. Deutlich sichtbar wurde diese Opposition erstmals im November 1999 beim WTO-Gipfel in Seattle.

Die äußere Opposition bilden die Beschleunigungsverweigerer. Sie besetzen die zahlreichen geographischen Nischen, die der Globalisierungsprozeß hinterläßt. Es sind Landstriche wie Chiapas oder Mecklenburg-Vorpommern, in denen weder klassische noch Online-Industrien angesiedelt sind. Während die erstere nur unter enormem Kapitalaufwand in diesen verlassenen Regionen zu errichten ist, fehlen letzterer dort die Strukturen der modernen Stadt, in der Kommunikationsinfrastruktur, Lifestyle und Kultur den Nährboden bilden. Die Globalisierung vernetzt die Metropolen weltweit. In den unproduktiven Landstrichen dagegen sammeln sich Minderheiten, nicht vollständig assimilierte Ureinwohner, Aussteiger, Esoteriker, Subsistenzapostel... Sie bilden das eine Potential des Widerstandes gegen die totale Marktförmigkeit.

Beispiel Chiapas: In Zeiten der klassichen Nationalstaaten hätte die mexikanische Regierung die Indígenas platt gemacht. In dem Maße, wie Mexiko über die Nafta Souveränität an das Weltwirtschaftssystem abgibt und der Weg von New York nach Mexiko-Stadt kürzer ist als von Mexiko-Stadt nach San Cristóbal de las Casas, kann sich die mexikanische Regierung kein Blutbad leisten. Es würde ohnehin viel zu teuer. Wie sinnlos ein solches Unterfangen ist, zeigt der absurde 2. Tschetschenien-Feldzug der Russen, der wie der erste in einem Debakel enden wird. Obwohl die Nischen aus dem Wahn der ständigen Produktivitätssteigerung ausgeschlossen, sind mehr und mehr Weltnischen über das Internet dennoch in der Lage, Teil der Weltöffentlichkeit zu sein. Eine paradoxe Situation. Die Globalisierung setzt die Schaffung einer Weltöffentlichkeit voraus, die den Gestrauchelten ein Forum bietet, auf ihr Scheitern oder Ausgeschlossensein aufmerksam zu machen. Und sie werden gehört, soviel ist klar.

Beispiel Mecklenburg-Vorpommern: Beim Jahrestreffen des Europäischen Bürgerforums auf Hof Ulenkrug kommen 300 Menschen zusammen, die keine Startup-Phantasien haben, nicht über Aktien reden, sondern über Menschenrechte, Ausbeutung und soziale Gerechtigkeit diskutieren. Diese Leute gibt es also noch!!! Sie sind mitnichten verbittert, eingeschüchtert oder pessimistisch. Hier, an der Peripherie, wird deutlich, was in der Stadt untergeht - es gibt Menschen, die sich konstruktiv den Zwängen der Globalisierung verweigern. Aber dieser Weg über die Peripherie ins neue Zentrum dauert 200 Jahre.

Die innere Opposition sitzt in den Städten. Man sieht sie kaum, denn es sind keine Randgruppen, sondern gut ausgebildete, kaufkräftige, scheinbar ausnahmslos von der Globalisierung profitierende Menschen. Das sind wir. Doch wir sind eine Generation, die einen Sinn verlangt...

Die unglaubliche Chance und zugleich Überforderung, die in der Individualisierung liegt, ist die bedingungslose Kommunikation. Kein Gutdünken, das ein Gespräch, einen Meinungsaustausch, ein Kennenlernen von vorneherein ausschließt. Hinweise wie Kleidung, Gestus oder Ausdrucksweise, mit wem man es zu tun hat, gibt es immer weniger. Nur wer sich auf sein Gegenüber ehrlich einläßt, hat eine Chance, etwas über den anderen zu erfahren. Der Großverdiener in kaputten Trendklamotten oder in feinem Zwirn, die arme Haut in kaputten Trendklamotten oder in feinem Zwirn, wir wissen es erst, wenn wir uns dem anderen auseinandergesetzt haben. Die billigen Gewißheiten sind damit vorbei. Die jetzt ovn uns verlangte Ehrlichkeit wird trotzdem etliche ins Ghetto der Subkultur treiben, wo die Welt klar ist und ein Feindbild, ein Anderes bietet. Bald wird sich zeigen, ob wir nur in Stämmen existieren oder Weltbürger sein können.