es war einmal die revolution
Ekkehard Krippendorf in der Süddeutschen Zeitung vom 16.1.2001

Die zweite Gründung der Bundesrepublik fand auf der Straße statt - ein 68er erinnert sich

Als ich mich tief bückte, um den Text genau zu lesen, blieben nacheinander drei Passanten auf ihrem Wege zur Deutschen Oper an der Bismarckstraße hinter mir stehen, die anscheinend das große Bronze-Relief dort noch nie zuvor bemerkt hatten. Zwei Männer, einen Schlagstock in der Hand, drücken einen halbnackten Menschen kopfüber aufs Pflaster.

Dazu gibt es einen Text: "Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg im Hofe des Hauses Krumme Straße 66 während einer Demonstration gegen den tyrannischen Schah des Iran von einem Polizisten erschossen." Sein Tod war ein Signal für die beginnende studentische und außerparlamentarische Bewegung, für den Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung in den Ländern der Dritten Welt und für den Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land.

Stickiges Klima der 60er Jahre

Unter diesem Eindruck schuf Alfred Hrdlicka 1971 das Relief "Der Tod des Demonstranten". Es ist eine erstaunliche und für das, was so gern "politische Kultur" genannt wird gar nicht hoch genug einzuschätzende Tat des Bezirkamtes Charlottenburg, dieses Denkmal aufgestellt zu haben.

Die Kunst stiftet Dauerhafteres für unser historisches Gedächtnis als die ständig revidierten Geschichtsbücher: Wie wichtig dies sein kann, wird in diesen Tagen wieder deutlich, da über die militante Vergangenheit des Außenministers gestritten wird.

In der Öffentlichkeit ­ auch der gutwilligen ­ wird einer subtilen Verschiebung der historischen Wahrheit Vorschub geleistet ­ und die Öffentlichkeit nimmt das bereitwillig hin. Das Unbehagen über die besorgniserregende rechte Gewalt-Epidemie gewinnt durch den vergleichenden Verweis auf "die 68-er" eine relativierende Perspektive, indem das alte Muster von linker gleich rechter Gewalt bedient wird. Nachträglich wird den idealistischen Motiven jener Generation die Glaubwürdigkeit abgesprochen.

Denn, was die Bilder von den Demonstrationen und Straßenkämpfen jener Jahre nicht zeigen und nicht zeigen können, das ist das stickige, verklemmte und intellektuell sterile Klima der sechziger Jahre einerseits und der ungeheure Enthusiasmus, die Hoffnung auf eine friedlichere und gerechtere Welt, die jene Generation beflügelten und ihr eine zuvor ungeahnte Kraft und Energie gaben.

Es schien nicht nur, es war eine Morgenröte hochgespannter Erwartungen, da junge Leute ein kreatives Potenzial in sich entdeckten und ihrem Leben einen Sinn gaben, wie es nach der Befreiung von 1945 ­ wo es eigentlich hingehört hätte ­ nicht der Fall war. Zu sehr war die Kriegsgeneration physisch und psychisch erschöpft gewesen.

Aber jetzt schienen das deren Kinder nachholen zu können: Es war die zweite, die mit Eigenleben gefüllte demokratische Gründung der Bundesrepublik, die jetzt erworben werden sollte, um sie auch zu besitzen.

Und das ging anscheinend nicht ohne bittere, auch eben physische Auseinandersetzungen und Konflikte ab ­ die Ordinarien zögerten nicht lange, die Polizei gegen ihre eigenen Studierenden zu rufen; und eben nicht nur sie.

Ein anderer Künstler, diesmal kein Bildhauer wie Hrdlicka, sondern ein Dichter, hat in der Epochenerfahrung eines anderen historischen Umbruchs, der Französischen Revolution, dem unterhalb aller schlimmen Erscheinungen historisch Wesentlichen, nämlich dem idealistischen Enthusiasmus jener Generation, ein unübertreffliches literarisches Denkmal gesetzt ­ Johann Wolfgang Goethe in "Hermann und Dorothea": "Denn, wer leugnet es wohl, dass hoch sich das Herz ihm erhoben, Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen, Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit!"

Ohne die gewalttätigen Methoden der Revolutionäre je zu billigen, hat Goethe die Schuld an der Revolution bei den Regierenden ­ und in der Gewalt von oben gesehen. Man darf sagen, die junge Bundesrepublik war da glücklicher: Trotz der revolutionären Rhetorik der Protestgeneration und des gewaltbereiten Aktionismus einiger Desperados wie der RAF ist es zu der ganz großen Konfrontation nicht gekommen, weil die demokratischen Mechanismen funktionierten und den Veränderungswillen in politisches Handeln transformierten. Und das nach nur zwanzig Jahren Verfassungs- und Rechtsstaat.

Steine und Straßenschlachten blieben begrenzte städtische Aufgeregtheiten als Reaktion auf eher spezifische Bedingungen (Frontstadt West-Berlin, Bauspekulation in Frankfurt).

Später konzentrierte sich die Konfrontation zwischen individuellem Idealismus und staatlichem Gewaltmonopol auf solche Objekte, in denen sich ökologische, militärische und technologische Fehlentwicklungen besonders spektakulär zeigten, über die aber die politische Klasse nicht einmal zu diskutieren bereit war: Wackersdorf, Mutlangen, Startbahn West. Wenn es zu Gewaltanwendung kam, so oft genug als Reaktion auf die aggressiven Einsatzleitungen der Staatsgewalt, die bekanntlich selbstgerecht darauf verzichteten, "das Grundgesetz immer unter dem Arm zu tragen".

Muss daran erinnert werden, dass die Westberliner Studenten, die sich damals flugblätterverteilend für "Spaziergängerdemonstrationen" unter das Ku'damm-Publikum mischten, von der Polizei herausgefischt wurden? Die Brutalisierung der Straßen-Öffentlichkeit fing mit massiven Polizeieinsätzen an.

Dass dann einige mit politisch-moralisch unreflektierter Selbstgerechtigkeit lustvoll kämpferisch in die staatlicherseits aufgestellte Brutalisierungsfalle so genannter "Gegengewalt" liefen, das zu verurteilen ist ebenso selbstverständlich, wie billig. Festzuhalten bleibt: Am Anfang der über zehnjährigen Gewaltspirale stand, woran Hrdlickas Memorial erinnert, der Polizistenmord an einem studentischen Demonstranten im Anschluss an eine völlig friedliche Demonstration.

Mut eines Bürgermeisters

Aber haben die staatstragenden Parteien sich selbst denn je von der von ihnen veranlassten und darum zu verantwortenden staatlich vermittelten Gewalt distanziert und sich dafür entschuldigt, an dieser Spirale immer wieder neu gedreht zu haben? Aber halt! Es gibt den spektakulären Fall einer solchen Entschuldigung. Einen der ganz seltenen Glücksfälle moralisch ernstgenommener Politik: Heinrich Albertz, Regierender Bürgermeister von Berlin, trat wenige Wochen, nachdem er den Schaden erkannt hatte, den er mit seiner Entfesselung der Polizeigewalt für die demokratische Kultur angerichtet hatte, freiwillig von seinem Amt zurück.

Danach wurde er sein eigener radikalster Kritiker ­ und hielt später die Flamme des Idealismus der von ihm in Machtverblendung Bekämpften noch länger am Leben, als so mancher von diesen selbst. Vor Heinrich Albertz sich heute zu verneigen heißt, daran zu erinnern, was damals möglich war und für welche ethisch begründete Politik Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Ihm ist noch kein öffentliches Denkmal gesetzt worden.  

Der Politikwissenschaftler Ekkeharz Krippendorff, 66, gehörte während der Studentenrevolte zum Republikanischen Club in Berlin und war später in der Friedensbewegung engagiert.

[zurück