bunt-rot-gelb
Niels Boeing, Hamburg, 2006

Die Deutschen haben während der WM einen entspannten Flaggenpatriotismus entdeckt. Wofür aber soll der stehen? Für verdiente Unternehmer und harmlose Promis? Hier ist der Versuch einer "Gegenleitkultur" von links.

Die deutsche Flagge ist Kult geworden: „Schwarz-rot-geil“ schrie die Bild-Zeitung jeden zweiten Tag in großen Lettern, als der deutsche Fußballsommer 2006 sich zu einer lustigen Massenpsychose steigerte, die sich kaum von der Love Parade unterschied. Mediterrane Feierlaune, Leistungsbereitschaft, Demokratie und Offensivfußball – ein neues Deutschland zeige sich da, raunte es allerorten.

Natürlich habe ich nichts dagegen, demnächst als Bundesbürger im Ausland nach dieser Dauerparty nicht mehr nur mit Panzern und preußischen Tugenden in Verbindung gebracht zu werden. Oder, wie ich es auf Reisen oft genug gehört habe, mit Hitler, Mercedes und Lothar Matthäus, wenn ich auf die obligatorische Frage „Where you from?“ mit „Germany“ antwortete. Aber die Gleichung ist billig und hohl. Denn sie täuscht darüber hinweg, dass vor allem seit Ausrufung der ominösen „Berliner Republik“ eine Neudefinition deutschen Selbstverständnisses forciert wird, das zuerst kompatibel mit dem global-kapitalistischen Wettbewerb der Nationen sein soll.

Leitkultur, Einbürgerungstests oder Quoten für deutschsprachige Popmusik im Radio: Beharrlich wird versucht, die Marke „Deutschland“ zu formen. Eine ganz „normale“ Nation also, die endlich wieder gute Laune hat und den Gürtel auch mal enger schnallen kann. Was stört, muss ausgeblendet oder zurechtgestutzt werden – das geht auch ohne völkisches Gerede. Hartz-IV-Empfänger, Gewerkschaften, Migranten und Pazifisten sind Querulanten und Nestbeschmutzer, die die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben.

Wo ist hier die kritische Linke, die diesem Unsinn laut und deutlich die Stirn bietet? Die der neo-bourgeoisen Phalanx die Deutungshoheit, was dieses Land ausmachen könnte, streitig macht? Gregor Gysi hat das Problem vor kurzem in der taz auf den Punkt gebracht: „Die Konservativen haben Deutschland immer als eine Nation verstanden, zu der zumindest bestimmte Linke nicht dazugehören. Diese Linken haben das irgendwann akzeptiert und sich nur noch außerhalb und gegen die Nation definiert.“

Nun wäre nichts überflüssiger, als das überholte und fatale Konzept der Nation von links zu modernisieren. Die heutige Bundesrepublik ist das Ergebnis verschiedener historischer Wendungen, aber keine „normale“ Nation. Ihr eine solche anzudichten, ist seit jeher das Bestreben der Konservativen gewesen, die das totale Versagen der überwältigenden Mehrheit der Deutschen im Dritten Reich als Unfall sahen, über den die Zeit irgendwann gnädig hinweggeht. Gerhard Schröders Politik der Vertretung deutscher Interessen – wenn nötig auch militärisch – hat sich unter seiner Regierung dann bruchlos in diese Linie eingereiht. Die Kritik daran kann aber wohl nicht dazu führen, dass die Linke sich der Aufgabe enthält, ihr eigenes Verständnis dieses Staates zu entwerfen und den Stoibers und Kochs entgegenzusetzen.

Der Versuch dazu beginnt für mich mit einer Frage, die sich mir zum ersten Mal vor zwei Jahren stellte, als das ZDF mit seinem Ranking „unserer Besten“ seinen Beitrag zur Leitkultur-Debatte abgab: Welche historischen oder zeitgeschichtlichen Gestalten können eigentlich als Wegweiser für einen Bürger der BRD dienen? Im Vorfeld der WM konnte ich dann die Ermunterung lesen, auch ich sei beispielsweise August Thyssen, Michael Schumacher oder gar Paul Kuhn. Nichts gegen einen Bigband-Leader, aber die Auswahl der in der Kampagne „Du bist Deutschland“ versammelten Vorbilder war einmal mehr eine Galerie aus Genies, tatkräftigen Unternehmern und harmlosen Promis. Eben genau das, was der neuen Marke „Deutschland“ frommt: Charaktere, die für den globalen Kapitalismus taugen sollen.

Eine „Bunte Republik Deutschland“, wie sie mir vorschwebt und in einigen Großstädten oder ländlichen Refugien in Ansätzen bereits existiert, finde ich darin nicht. Meine Ikonen, um doch ein großes Wort zu bemühen, sind etwa Max Ernst oder Hannah Höch, deren Dadaismus eine bornierte bürgerliche Gesellschaft angriff, oder Joseph Beuys, der die Kunst aus ihrem elitären Selbstverständnis reißen und jedem einzelnen überantworten wollte. Einen Pazifisten wie Carl von Ossietzky ziehe ich dem Realisten Konrad Adenauer vor, der den Aufbau der Bundeswehr zu verantworten hat und es auf Platz 1 der ZDF-Leitkulturliste schaffte. Willy Brandts Kniefall in Warschau, der meine Großeltern noch in Rage versetzte, ist für mich eine der größten Gesten gewesen, die je ein deutscher Politiker fertig gebracht hat.

Um bei den politischen Köpfen nur im 20. Jahrhundert zu bleiben: Rosa Luxemburg ist eine große Analytikerin des Kapitalismus gewesen, aber ach, sie war ja Kommunistin – das ist für den Mainstream nun ganz und gar undeutsch. Auch 68er-Ikonen wie Rudi Dutschke oder der Spaßguerillero Fritz Teufel beeindrucken mich als in Westdeutschland geborenen BRD-ler schwer für ihren Beitrag zur politischen Auseinandersetzung in einer Demokratie.

Republikanische Zivilcourage: Da fallen mir Johannes Litten, der als Vertreter der Nebenklage im Edenpalast-Prozess 1931 Hitler demontierte, als es noch möglich war, oder Georg Elser ein, dessen früher, hellsichtiger Attentatsversuch auf Hitler Jahrzehnte lang nicht einmal erwähnenswert war, weil er alleine handelte. Stattdessen müssen wir bis heute immer wieder den Jahrestag des 20. Juli begehen. „Wenn der Stauffenberg Mumm gehabt hätte, hätte er Hitler eigenhändig erschossen“, lautete der ausnahmsweise treffende Kommentar meiner Großmutter zu diesem bundesdeutschen Gedenktag.

Ohne Musik geht es gar nicht: Peter Hein, Ex-Sänger der Band Fehlfarben, hat nicht nur deutschsprachige Popmusik auf der Höhe der Zeit erst ermöglicht, sondern Punk am konsequentesten durchdacht und sich dem einlullenden Starkult der Spaßgesellschaft verweigert. Nicht nur in der Musik ist es als Bunt-Republikaner aber unmöglich, sich auf Persönlichkeiten aus Deutschland zu beschränken. Die Beatles, die, anders als es ihr erstarrtes Image der ersten Boygroup vermuten lässt, mit ihrer leider gescheiterten Firma Apple eine Independent-Alternative zur Entertainment-Industrie wagten; Serge Gainsbourg, der sich mit einer Reggae-Version der Marseillaise über den Stolz der Grande Nation mokierte; oder der brillante Miles Davis, der nie in Professionalität erstarrte und den Jazz bis an sein Lebensende weiterentwickelte – sie inspirieren mehr als Jahrzehnte deutscher Unterhaltungsmusik.

Und noch drei würde ich in einer ersten Sichtung als unverzichtbare Wegweiser nennen: Nelson Mandela, einer der wirklichen Staatsmänner der Gegenwart, Gottlieb Dudweiler, der die Schweizer Einzelhandelskette Migros in eine selbstbestimmte Genossenschaft umwandelte, die dennoch mit großen Konzernen konkurrieren kann, oder Gandhi, der nicht nur die Kraft gewaltloser Opposition demonstrierte, sondern auch Jahrzehnte vor der Globalisierungsdebatte eine regionale, selbstbestimmte Ökonomie dachte.

Die Auswahl ist subjektiv, nicht einmal konsistent und alles andere als erschöpfend, kommt aber dem am nächsten, was ich auf die Frage nach meiner persönlichen Leitkultur entgegnen würde. Die kann man natürlich schon als Denkfigur von vorneherein ablehnen. Doch in einer Zeit, in der die Personalisierung von Inhalten die politische Debatte bestimmt, stellt sich die Frage, ob eine nicht-nationale Linke in der Auseinandersetzung um eine kulturelle Hegemonie es sich leisten kann, abstrakt zu bleiben. Längst sind Prinzipien wie Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit, Toleranz oder Chancengleichheit zu Parolen geworden, die sich Vertreter jeglicher politischer Couleur nach Belieben um die Ohren hauen. So scheute sich die rot-grüne Bundesregierung nicht, die Agenda 2010 in Broschüren als Verwirklichung von Gerechtigkeit zu feiern.

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