die
creative gruppe
rasse
- klasse - nation Dezember
1994, ausgedruckt 17 Seiten
- Vorwort
- Klasse
- Rasse und
Rassismus
- Nation,
Nationalismus und Nationalbewußtsein
- Die Suche
nach Identität
- Die
multikulturelle Gesellschaft
- Konsequenzen
- Anhang: Die
Begriffe bei Balibar/Wallerstein
Kommentare
Dabei waren: Niels
Boeing, Andreas Gröhn, Richard von Heusinger, Robert von
Heusinger, Ruprecht von Heusinger, Hilde Hoherz, Christina
Meinecke, Oliver Peltzer, Jens Peters, Martin Roddewig, Justin
Stauber.
Vorwort
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Dies ist kein übliches Protokoll des Treffens, sondern
ein Kommentar meinerseits, der die Diskussion reflektiert, ohne
neutral zu bleiben. Der Grund ist schlicht und etwas lächerlich:
die Diskette mit dem tatsächlichen Protokoll ist mir in der
Uni abhanden gekommen, bevor ich einen ersten Ausdruck gemacht
hatte. Da die Diskussion aufgrund der großen, politisch
sehr heterogenen Gruppe hitziger und langwieriger war als sonst,
gab es diesmal nicht so viele greifbare Erkenntnisse. Für
die praktischen Konsequenzen aus unseren Überlegungen über
Klassen, Rassismus, Nation, Nationalismus und Multikulturalität
fehlte am Ende die Zeit, es hätte eines weiteren Wochenendes
bedurft. Bereits im August 93 hatten wir einen Abend lang uns
diesem Themenkomplex angenähert, auf vielfache Anregung all
unserer Freunde angesichts der Ereignisse von Mölln und
Solingen, aber letztlich mehr neue Fragen als Antworten gefunden.
Inspiriert wurde dieses Treffen durch das hervorragende Buch von
Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein, "Rasse, Klasse,
Nation - Ambivalente Identitäten" (Argument-Verlag,
Hamburg - Berlin 1992). Im letzten Abschnitt werde ich anhand
einiger Zitate kurz vorstellen, wie diese Begriffe von den
Autoren gefaßt werden, da sie (einige von) uns nicht
unerheblich beeinflußt haben. Dennoch haben wir die
Begriffe und Phänomene nicht in bewußter Anlehnung
daran untersucht.
2 Klasse
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Ganz allgemein kann man Klassen als die Stufen der
gesellschaftlichen Machthierarchie bezeichnen. Die Übergänge
zwischen ihnen sind semipermeabel: runter geht es wesentlich
leichter als rauf. Allerdings lassen sich die Grenzen nicht ohne
weiteres scharf definieren. Insofern ist der zweifache
Klassenbegriff bei Marx wichtig: die Klasse "an sich",
als Objekt der historischen Betrachtung und der Analyse sozialer
Verhältnisse, und die Klasse "für sich" als
Subjekt in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Existenz
der letzteren impliziert also ein Klassenbewußtsein, also
auch Kriterien, an denen die eigene Klassenzugehörigkeit
festgemacht werden kann, und ist Voraussetzung für die
revolutionäre Veränderung einer Gesellschaft. Die
Entwicklung in den meisten westlichen Industriestaaten hat dieses
Klassenbewußtsein jedoch erodiert, und es ist sinnvoller,
von Interessengruppen zu sprechen, die ihre Ziele innerhalb
politischer Spielregeln durchsetzen wollen. Das setzt einen
Common Sense hinsichtlich dieser Regeln voraus, der, ob
freiwillig oder nicht, ob mit oder ohne Begeisterung, durchaus
vorhanden ist (eine Veränderung der Gesellschaft durch
Revolution steht heute nicht mehr ernsthaft zur Debatte).
Gleichzeitig hat der Begriff Klasse im allgemeinen Sprachgebrauch
seine politisch-ökonomische Bedeutung verloren und dient
lediglich zur soziologischen Gliederung: man spricht von
Bildungsbürgertum, von "Mantafahrern", von
"Prolls" und von den Oberen Zehntausend und bezieht
sich dabei auf Bildung, Statussymbole und Geld. Mehr gibt der
Begriff Klasse einfach nicht mehr her. Da in den modernen
Sozialstaaten die Lebensbedingungen unvergleichlich besser und
sicherer als im 19. und frühen 20. Jh. sind, wäre die
wirtschaftliche Komponente in ihrer früheren Dominanz zu
einseitig als Kriterium der Machtschichtungen. Macht ist heute
auch an Information geknüpft, die über die Medien
geliefert und gehandelt wird, ohne daß die Akteure im
Medienspiel alle sagenhaft reich wären, geschweige denn
Miteigentum an den Verlagen hätten. Bildung bedeutet in
diesem Zusammenhang die Fähigkeit, Information so
auszuwerten, daß man sich an die Spitze gesellschaftlicher
und ökonomischer Trends setzen kann. Daß die
Klassenidee für die heutigen Verhältnisse hierzulande
zu grob und undifferenziert ist, um auf ihr noch eine politische
Bewegung aufzubauen, bedeutet aber nicht, daß wir das
goldene Zeitalter fast erreicht haben. Gerade jetzt in den
Neunzigern ist eine breite politische Bewegung wieder vonnöten,
um die Verkrustungen der altbundesrepublikanischen Strukturen
aufzubrechen. Die Grünen oder die Friedensbewegung sind für
mich Prototypen dieser neuen Träger politischer Veränderung,
sozial heterogene Gruppen mit einem bestimmten Problembewußtsein,
die sich mit dem herkömmlichen Klassenbegriff nicht mehr
fassen lassen.
3 Rasse und Rassismus
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Die Vorstellung, daß es biologisch definierte Rassen
gibt, ist in den Stand eines Volksaberglaubens abgesunken und
wird von halbwegs gebildeten Menschen nicht mehr geteilt. Die
phänotypischen Merkmale wie Hautfarbe, Augen- und Nasenform
sind als Kategorisierung höchstens folkloristisch zu
gebrauchen. Da dies auch von den Neorassisten nicht bestritten
wird und diese ihre Kategorisierung an kulturellen Eigenheiten
festmachen, erhebt sich die Frage, warum man überhaupt noch
an dem Begriff Rassismus festhält. Im Prinzip muß dann
die Diskriminierung von Polen, Weißrussen, Ukrainern und
anderen Osteuropäern auch rassistisch genannt werden, was
zumindest dem gängigen Sprachgebrauch zuwiderläuft (der
ja nicht korrekt sein muß). Angesichts des inflationären
Gebrauch des Vorwurfs:"Rassismus!" stellt sich für
mich die Frage: Verwende ich Rassismus synonym für die
Diskriminierung, die die Angehörigen der Dritte-Welt-Staaten
von seiten der Industriestaaten erfahren, als Erbe des
Kolonialismus, oder allgemeiner für die Diskriminierung, die
Angehörige einer wirtschaftlich schwächeren Kultur
durch diejenigen der stärkeren in deren Staat erleiden, oder
geht es nur um die Diskriminierung Kulturfremder innerhalb einer
Kultur/ eines Kulturkreises an sich? Letzteres wäre wohl
von der althergebrachten Xenophobie kaum zu unterscheiden. Ich
plädiere deshalb und, weil die Entstehung des Rassismus vom
Kolonialismus nicht zu trennen ist, für die erste Variante.
Dies wirft allerdings gleich einige weitere Fragen auf: Gibt es
einen umgekehrten Rassismus der Dritten Welt gegen die Erste?
Impliziert nicht diese Betrachtung die Gleichsetzung der
Diskriminierten mit einem fremden Kulturkreis, ja mit dem
Phänotyp (z.B. schwarz), die man ja ablehnt? Läßt
sich der Prototyp des Rassismus schlechthin, die Diskriminierung
der Schwarzen in den USA, überhaupt in dieses Verhältnis
"Erste gegen Dritte Welt" einordnen, da sich doch
genügend schwarze US-Amerikaner als Amerikaner fühlen?
Ich glaube schon, da dieser Konflikt das Ergebnis des
Kolonialismus ist. Würde es sich um zwei alteingesessene
Volksgruppen handeln, wie z.B. im ruandischen Bürgerkrieg,
spräche niemand von Rassismus, sondern von
Minderheitenunterdrückung. Rassismus ist eben der
Ausdruck einer kruden Rassentheorie, die eine Hierarchie der
großen Kulturkreise (also in Zeiten des direkten
Kolonialismus der Rassen, welche nicht nur kulturell, sondern
auch biologisch definiert wurden) aufstellt und den
abendländischen (heute besser: den westlichen) an die Spitze
setzt. Ihn zu konstatieren, bedeutet jedoch mitnichten eine
Akzeptanz der ihm zugrunde liegenden Definitionen, sondern die
Offenlegung bestimmter Denkmuster. Wir sollten also Rassismus
in eine Reihe mit Antisemitismus, Xenophobie und der
Unterdrückung von kulturellen/ ethnischen Minderheiten
stellen und nicht als Oberbegriff all dieser Phänomene
definieren, da sie verschiedene historische und wirtschaftliche
Ursachen haben, die sich nicht auf ein Muster reduzieren lassen.
Die Subsumption dieser Phänomene unter Rassismus impliziert
für mich gewisse Wertigkeiten, die inakzeptabel sind. Die
Opfer von z.B. Xenophobie leiden nicht weniger als die von
Rassismus, Antisemitismus ist nicht "nur" eine Variante
des überall anzutreffenden Rassismus. Gegenteilige
Behauptungen riechen stark nach Apologien und
Instrumentalisierung in ideologischen Debatten. Rassismus
(genauso wie Faschismus) ist längst zum undifferenzierten,
intellektuellen Totschläger verkommen, der nichts mehr
erklärt und von der Analyse konkreter Probleme ablenkt.
4 Nation, Nationalismus und
Nationalbewußtsein
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Die Entstehung der Nation ausschließlich aus der
Industriellen Revolution und der Entstehung des Kapitalismus
erklären zu wollen, scheint mir wiederum zu einseitig. Der
philosophische Nährboden der Aufklärung, die die
politischen Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums
formulierte, aber nicht mit dem Ziel, den Kapitalismus zu
errichten, sondern generell erst einmal wirtschaftliche
Handlungsfreiheit zu erlangen, kam besonders in der Geburtsstunde
der ersten modernen Nation, Frankreich, zum Tragen. Die Republik
als Ergebnis der französischen Revolution kam zu ihrem
Selbstverständis als Nation doch vor allem durch die
Bedrohung der europäischen Monarchien. Hier wird schon
ein wesentlicher Punkt deutlich, nämlich das Vorhandensein
eines identitätsstiftenden Gründungsmythos, der auf
einer schicksalhaften historischen Situation beruht: einer
Revolution, eines Befreiungskampfes gegen fremde Besatzer, einer
Reichseinigung durch eine Führerfigur. Die Nation ist die
Fiktion einer großen, mythischen Familie, die über den
Identitätsrahmen des Volkes hinausgeht. Gleichzeitig ist der
Wunsch nach Abgrenzung gegen den Rest der Welt stärker
ausgeprägt als beim bloßen Volk in Form von strengen
Zugehörigkeitskriterien. Die Glaubwürdigkeit und
Stärke des Wunsches, einer Nation beizutreten, muß
jetzt unter Beweis gestellt werden, es sei denn man wird in die
Nation hineingeboren, was aber nicht allen Fällen genügt
(z.B. in Deutschland). Zu dem ursprünglichen Merkmal Sprache
und Kultur treten jetzt Zustimmung zu einer bestimmten Staatsform
und/oder Abstammung hinzu. Das subjektive Empfinden für die
Nation kann verschiedene Intensitäten annehmen, von
Nationalbewußtsein oder Patriotismus über
Nationalgefühl bis hin zum Nationalismus, der übersteigerten
Form, deren Abgrenzung gegen das andere, das Fremde sehr
aggressive Züge annimmt. Hierbei gibt es eine heftige
Kontroverse, ab welcher dieser Stufen die negativen Seiten
überwiegen. Sind Frankreich oder die USA Vorbilder eines
positiven Patriotismus, den die Deutschen jetzt nach der
Wiedervereinigung erlernen müssen? Ist eine Absage auch an
Patriotismus, wie sie in der alten Bundesrepublik recht
verbreitet war, ein weiterer deutscher "Sonderweg"?
Falls ja, liegt eine Gefahr darin? Hat Wolfgang Schäuble
etwa recht? Ich halte das alles für Quatsch. Zum einen
können sich auch in den anderen westlichen demokratischen
Nationalstaaten nicht alle für einen "harmlosen"
Patriotismus begeistern (siehe Balibar und Wallerstein), da die
eigene Überhöhung bzw. die Abwertung des anderen immer
latent vorhanden ist und in politischen Krisensituationen wieder
hervorbrechen kann. Zum andern bin ich davon überzeugt, daß
die Nationen nicht das Ende der geschichtlichen Entwicklung,
sondern in der gegenwärtigen globalen Situation ein
Auslaufmodell sind. In den letzten Jahrzehnten tritt immer
deutlicher zutage, daß die Grenzen der Nationalstaaten
weder mit denjenigen größerer ökologischer
Systeme noch mit denjenigen kultureller Gruppen übereinstimmen.
Selbst von einem kapitalistischen Standpunkt aus (immerhin hat
der Kapitalismus lange Zeit die Ausbildung der Nationalstaaten
maßgeblich gefördert) werden sie zunehmend
anachronistisch. Welche wirtschaftliche Entwicklung auch kommen
mag, ob forciert kapitalistisch oder alternativ-ökologisch,
die Idee der Nationalstaaten wird austrocknen, da sie nicht mehr
gebraucht, ja sogar hinderlich wird. Es ist übrigens
bemerkenswert, daß in anderen Kulturkreisen bis zur Mitte
dieses Jahrhunderts keine Nationalstaaten in unserem Sinne
existierten (dies als historische Rückständigkeit
gegenüber Europa zu bewerten, ist indiskutabel). In der
islamischen Welt stand, vergleichbar dem christlichen
Mittelalter, die religiöse Autorität des Islam
(verkörpert durch die Imame) über jeder weltlichen
Macht eines Fürsten. Erst in der jüngsten Zeit haben
sich sämtliche Staaten auf der Erde als Nationalstaaten
deklariert, was mitunter völlig unüberzeugend ist, da
die Grundlagen mancher Nationen, z.B. in Afrika an den Haaren
herbeigezogen sind und mit der Identität der Leute nichts,
aber auch gar nichts zu tun haben. Selbst im Europa der 90er
erfahren wir die Sinnlosigkeit der Bildung neuer Nationen, die
den kulturellen und wirtschaftlichen Realitäten nicht
gerecht werden. Im übrigen sollte man hier auch überlegen,
ob jede Unabhängigkeitsbewegung unterdrückter Völker
in den letzten 200 Jahren als national, als Auftakt zur Bildung
eines eigenen Nationalstaates gesehen werden kann.
Unabhängigkeitsbewegungen und Aufstände gibt es seit
Jahrtausenden, aber denjenigen vor dem 18. Jh. wird kaum jemand
das Etikett "national" anheften wollen. Man muß
sich endlich von dieser Logik befreien, daß alle Völker
am "Ende" zwangsläufig Nationen werden. Aus diesen
Gründen halte ich von Nationen und Nationalstaaten nichts
mehr und hoffe, daß ein Zeitalter ohne Nationen
heranbricht.
5 Die Suche nach Identität
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Was könnte nach den Nationen kommen? Daß es
irgendeinen Identität stiftenden Rahmen geben muß,
halte ich für unvermeidbar, da die Menschen als Einzelwesen
nur ganz selten die Kraft aufbringen, die Identität ihres
Selbst als einen sicheren Standpunkt im Zusammenleben
aufzufassen. Ein derartiges Selbstbewußtsein ist das Ziel
vieler Religionen und Philosophien, sei es Gottvertrauen,
Erleuchtung oder Ataraxie und Autarkie (bei den Stoikern). Leider
scheint es nur selten zu gelingen. Birgt eine wie auch immer
geartete Gruppenidentität jedoch zwangsläufig eine
gegen Außenstehende aggressive Komponente, die Konflikte
heraufbeschwört? Möglicherweise kann die
Verhaltensforschung darauf eine Antwort geben, etwa derart, daß
"Identität" bei Säugern, speziell bei
Primaten, gleichbedeutend mit der Festlegung eines eigenen
Territoriums ist, dessen Betreten durch "Fremde"
automatisch Abwehrreaktionen hervorruft. Zumindest müssen
wir uns damit abfinden, daß jede Art von Gruppen-Identität
eine gewisse Abgrenzung nach "außen"
beinhaltet. Immerhin bieten sich zwei Aspekte an, die eine
unangestrengte, ja vielleicht natürliche Identität
stiften können: die Sprache und die Landschaft, in der man
lebt. Wer sich für längere Zeit im Ausland mit einer
fremden Sprache aufgehalten hat, wird die Bedeutung der Sprache,
in der man denkt, fühlt und sich mitteilt, verstehen. Man
kann sich nicht in einen Sprach-losen Raum begeben, und die
Möglichkeit, mit bestimmten Menschen nuanciert zu
kommunizieren, verbindet mit diesen mehr als mit Leuten, die man
etwa gleich gut leiden kann, deren Sprache man aber nicht
beherrscht. Sprache ihrerseits ist nicht neutral, sondern
transportiert in ihrer Struktur Weltbilder und in ihrer Literatur
Eigenarten und Lebensweisen einer Kultur, von denen sich zu lösen
einer langen und tiefgreifenden Reflexion bedarf. Eine dritte
Grundlage für Identität kann eine gemeinsame ethische
oder politische Wertordnung, zumindest ein Minimalkonsens
hinsichtlich der Formen des Zusammenlebens, sein. Die Identität
einer Gruppe muß nicht auf allen drei Elementen
gleichzeitig basieren: es gibt Sprachgemeinschaften, die über
verschiedene Landschaften verstreut sind, Gemeinschaften, die
sich ihrer heimatlichen Landschaft verbunden fühlen, aber
mehrere Sprachgruppen umfassen, usw. Alle sind aber offene
Gruppen, die von ihrer Natur her nichts verlieren, wenn neue
Mitglieder beitreten. Ich sehe überhaupt keinen vernünftigen
und zwingenden Grund, warum solche Identitätsgruppen
geschlossen sein sollen und warum eine Einheit von Sprache,
Landschaft und Wertordnung unter einem nationalen Mythos in einem
einzigen Staat angestrebt werden muß. Die Alternative zum
Nationalstaat ist der multikulturelle Bundesstaat von der Größe
eines kontinentalen oder subkontinentalen Ökosystems. Zwei
Prototypen (in dieser, aber auch nur in dieser Hinsicht) sind die
USA und Indonesien, wo etwa 360 verschiedene Sprachgruppen/
Kulturen, die diversen Religionen angehören, in einem Staat
leben. Allerdings hat diese Alternative nur Chancen, wenn
zwischen den Identitätsgruppen (Kulturen) politische
Gleichberechtigung herrscht, das Establishment also nicht von
einer Gruppe dominiert wird, die den Bundesstaat als ihren
Nationalstaat mit sehr vielen Minderheiten betrachtet.
6 Die multikulturelle Gesellschaft
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Das Beispiel USA für eine moderne multikulturelle
Gesellschaft ist ambivalent, beinhaltet es doch auch die
vielgeschmähte amerikanische Fast-Food-Kultur, die als
kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den verschiedenen
kulturellen Gruppen zu fungieren, ja diese sogar auf einem Level
der Unkultur (aus traditioneller europäischer Sicht) zu
assimilieren scheint. Besteht also in der multikulturellen
Gesellschaft langfristig gar keine Möglichkeit, kulturelle
Eigenarten zu bewahren, werden die Identitätsgruppen
(Kulturen) am Ende in einer relativ einheitlichen
"Mischgesellschaft" - vielleicht einer neuen Nation? -
aufgehen, oder eher gesagt untergehen? Gilt dasselbe in globalem
Maßstab nicht auch für die großen Kulturkreise
in einem sich entwickelnden freien Weltmarkt, der eine
multikulturelle Weltgesellschaft vorwegnimmt? So lauten die
Haupteinwände der Gegner der multikulturellen Gesellschaft,
hier treffen sich, oberflächlich betrachtet, Nationalisten
und Dritte-Welt-Emanzipierer. Ich denke, daß man die
multikulturelle Gesellschaft im kleineren und die fiktive im
Weltmaßstab unterscheiden sollte. Was erstere anbelangt,
sehe ich das Problem nicht. Auf der einen Seite läßt
sich die Dynamik der Veränderung einer Kultur nicht
aufhalten, man kann den Zustand einer Kultur nicht konservieren.
Genau dies aber gaukeln uns die Nationalstaaten vor, die ihre
jeweilige Kultur zu einer kanonischen Hochkultur umgedeutet
haben, die den Abschluß der historischen Entwicklung
darstellt. Die Geschichte zeigt uns jedoch, daß selbst
Hochkulturen, die Jahrhunderte, ja sogar 1000 Jahre bestanden,
zuletzt in etwas Neuem aufgingen. Ihr Vermächtnis
beschränkte sich auf Literatur, auf Philosophie, vielleicht
nur auf einige Mythen, aber eine wirkliche Kontinuität bis
zu einigen Nachfolgern, die heute ihren Namen beanspruchen, läßt
sich kaum finden. Im Falle der europäischen Nationalstaaten
der letzten 200 Jahre wurde diese Kontinuität meistens
konstruiert, wenn nicht gar erfunden. Was haben die Deutschen des
Jahres 1994 mit den Bewohnern des Hl. Römischen Reiches
Deutscher Nation - ich will sie gar nicht Deutsche nennen - des
Jahres 1100 zu tun? Mit den Griechen des Jahres 450 v. Chr.
verbindet sie immerhin die Grundidee der Demokratie. Wenn ich es
genau betrachte, ist die lineare Geschichtsschreibung all unserer
Nationalkulturen fast eine Fälschung Orwellschen Ausmaßes.
Auf der anderen Seite zeigt uns die Geschichte ebenso, daß
auf Perioden der Vereinheitlichung, der Angleichung Perioden der
Differenzierung, der Zersplitterung folgen. Daher bin ich fest
davon überzeugt, daß in einer multikulturellen
Gesellschaft quer zu den Ausgangskulturen neue Schichtungen
entstehen, die aber erst nach 200, 300 Jahren sichtbar sein
werden. Man nehme als Beispiel das Römische Reich: Die
Bevölkerung Galliens etwa bestand aus römischen
Siedlern, Galliern, sonstigen aus dem Reich Zugewanderten, also
vielleicht drei bis vier größeren kulturellen Gruppen.
Daraus entstanden später Provencalen, Burgunder, Aquitanier,
die Einwohner der Ile de France und andere Gruppen, in denen
jeweils alle ursprünglichen "Ingredienzen"
enthalten waren sowie einige neue Elemente. Aber selbst wenn
auf die gegenwärtige Periode der Vereinheitlichung keine
Differenzierung in neue Kulturen folgen sollte: Folgt am Ende
eine Atomisierung in Kleinstgruppen und Individuen, in der jeder
Träger seiner persönlichen Kultur ist, die sich aus
vielen Elementen zusammensetzt, etwa so, wie die
Stadtgesellschaft von New York City? Die Erhaltung einer
möglichst großen Zahl von Kulturen kann doch nicht ein
Wert an sich sein, weshalb man den jetzigen Status Quo für
alle Zeiten institutionalisieren möchte. Im übrigen
zeigt New York City auch die Grenzen einer Atomisierung: es
existieren nach wie vor diverse Communities der
Einwanderergruppen neben dem "atomisierten New Yorker",
bei dem man außer seinem Namen nichts mehr eindeutig
zuordnen kann. Die ganze Aufregung um das "multikulturelle
Gemauschel" (um R. aus B. zu zitieren) fußt auf der
seltsamen Ansicht, wir hätten den sicheren Hafen der
Geschichte endlich erreicht, den man nie wieder verlassen müsse.
Im globalen Maßstab habe ich jedoch einen Einwand zu
erheben: Nach vierhundert Jahren Kolonialismus und 35 Jahren
Nord-Süd-Konflikt sollte man den Staaten der Dritten Welt
die Chance einräumen, selbständig und gleichberechtigt
in einen dynamischen Entwicklungsprozeß einzutreten. Daß
das gegenwärtig nicht mehr als ein frommer Wunsch ist,
dessen bin ich mir bewußt (siehe auch unser 3.Welt-
Treffen). Es geht nicht darum, diese Kulturen vor der
Verwestlichung zu bewahren, sondern daß sie die Möglichkeit
haben, sich gegen diese zu entscheiden (was das gegenwärtige
Weltwirtschaftssystem nicht zuläßt). Ansonsten gilt
auch hier dasselbe wie oben. Am Beispiel Japans sieht man nach
Meinung vieler Japankenner, wie eine Synthese aus eigener
Tradition und westlichen Elementen stattfinden kann, die eine
ganz neue, eigenständige Qualität hat.
7 Konsequenzen
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- Die Integration der europäischen Nationalstaaten in
einen regionalistischen europäischen Bundesstaat wo immer
möglich zu vertreten und voranzutreiben. - Die Notwendigkeit
eines neuen Geschichtsverständnisses, das über die
Schulen einen tiefgreifenden Bewußtseinswandel in den
kommenden Generationen hinsichtlich der Würde und
Gleichwertigkeit anderer Kulturen bewirkt. Reisen oder
Zusammenleben in Großstädten reichen offenbar noch
nicht, um die Leute ein für alle Mal von einem falschen
westlichen (bzw. auch deutschen) Überlegenheitsgefühl
zu kurieren. Dies wird jedoch tagtäglich durch die Bilder
des "Chaos" in den Dritte-Welt-Staaten genährt.
Außerdem sehen wir am verordneten Anti-Faschismus der alten
DDR, daß man die richtigen Ansichten nicht erzwingen kann.
Ein erster Schritt wäre jedoch schon getan, würde man
im Geschichtsunterricht die außereuropäischen Kulturen
nicht nur als Randerscheinungen auf dem Weg zur westlichen
Zivilisation behandeln, als Nebenschauplätze der
Weltgeschichte. - Schwachsinnige, bornierte Ignoranz - wie
beispielsweise das Gerede von der Auschwitzlüge - kann
jedoch nie ausgeschlossen werden und sollte uns nicht sofort bis
ins Mark erschüttern. Da eine Orwellsche Gehirnwäsche
selbst um ehrenwerter Absichten willen - wie etwa die Aufklärung
über den Holocaust - völlig indiskutabel ist, müssen
wir uns mit idiotischen, wider alle Fakten unhaltbaren Ansichten
bis zu einem gewissen Grade abfinden. Dies betrifft vor allem die
gegenwärtige Unsicherheit der deutschen Demokraten
abzuschätzen, wie gefährlich Rechtsextremismus,
Neonazismus und Rassismus in Deutschland wirklich sind. Der Grat
zwischen Hysterie und Indifferenz scheint extrem schmal zu sein
und noch dazu für jeden woanders zu verlaufen. Solange hier
keine breite gemeinsame Basis der Demokraten gefunden wird und
jeder die Bemühungen der jeweils anderen im politischen
Tagesgeschäft gegen diese kehrt, kann dieser Sumpf aus
Akteuren, Claqueuren und Souffleuren nicht trockengelegt werden.
- Für mich persönlich: außer
Selbstverständlichkeiten - d.h. "richtig" zu
wählen, die Augen auf zu halten und keine Provokationen
hinzunehmen, mitzuhelfen, wenn es "brennt" (was ich
bisher noch nicht erlebt habe) - immer noch viel Ratlosigkeit.
8 Anhang: Die Begriffe bei
Balibar/Wallerstein
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Alle Zitate aus: Etienne Balibar, Immanuel Wallerstein -
Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Argument
1990
Neo-Rassismus: "Ideologisch gehört
der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex
der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines
'Rassismus ohne Rassen', wie er sich außerhalb Frankreichs,
vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon recht
weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschendes
Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die
Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus,
der - jedenfalls auf ersten Blick - nicht mehr die Überlegenheit
bestimmter Gruppen und Völker über andere postuliert,
sondern sich darauf 'beschränkt', die Schädlichkeit
jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen
und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu
Recht als ein differentialistischer Rassismus bezeichnet
worden..." (Kap. 1, Balibar, S. 28) "...wenn die
irreduzible kulturelle Differenz die wahrhafte 'natürliche
Umwelt' des Menschen bildet, gleichsam die Atmosphäre, ohne
die sein historischer Atem nicht möglich wäre, dann muß
jede Verwischung dieser Differenz notwendige Abwehrreaktionen
auslösen, zu 'interethnischen' Konflikten und generell zu
einem Anstieg der Aggressivität führen. Dabei handelt
es sich, wie man uns erklärt, um 'natürliche'
Reaktionen, die aber zugleich gefährlich sind. In einer
staunenswürdigen Kehrtwendung [zum früheren Rassismus]
bieten sich uns derart die differentialistischen Lehren für
die Aufgabe an, den Rassismus zu erklären (und ihm präventiv
zu begegnen)." (Kap. 1, Balibar, S. 30) Die verschiedenen
Kulturen sind nicht gleichwertig, sondern hierarchisch
gegliedert: "...als die implizit überlegenen Kulturen
gelten diejenigen, die die 'individuelle' Initiative, den
sozialen und politischen Individualismus, besonders hoch bewerten
und fördern, im Gegensatz zu denjenigen, die ihn hemmen und
einengen." (Kap. 1, Balibar, S. 34)
Die Funktion des
Rassismus in der kapitalistischen Wirtschaft: "In seiner
Funktion hat der Rassismus die Form dessen angenommen, was man
als 'Ethnisierung' der Arbeiterschaft nennen könnte... Ein
so geartetes System, d.h. ein der Form und Bösartigkeit nach
konstanter, bezüglich der Grenzziehungen [der Rassen] aber
einigermaßen flexibler Rassismus, ist in dreierlei Hinsicht
äußerst leistungsfähig. Zum einen erlaubt es, zu
jeder Zeit und an jedem Ort entsprechend den aktuellen
Bedürfnissen die Anzahl der Menschen, welche die niedrigsten
Löhne erhalten und die anspruchslosesten Arbeiten
verrichten, zu vergrößern oder zu verringern. Zum
zweiten führt es zur Entstehung und kontinuierlichen
Reproduktion von Gemeinschaften, deren Sozialisationsformen
Kinder auf die Übernahme entsprechender Rollen vorbereiten
(wobei diese Sozialisation allerdings auch widerständige
Haltungen hervorruft). Zum dritten schafft das System eine nicht
auf Verdienst und Leistung beruhende Grundlage, um Strukturen der
Ungleichheit zu rechtfertigen. Gerade weil der Rassismus eine
anti-universalistische Lehre vertritt, erweist er sich bei der
Aufrechterhaltung des [in seinen Grundlagen universalistischen]
kapitalistischen Systems als hilfreich." (Kap. 2,
Wallerstein, S. 45/46)
Volk, Rasse, Nation, ethnische
Gruppe: "...die drei meistverwendeten Begriffe sind
vielmehr 'Rasse', 'Nation' und 'ethnische Gruppe'. Dabei handelt
es sich offensichtlich um verschiedene Gestalten von 'Völkernd'
in der modernen Welt... 'Rasse' gilt im allgemeinen als eine
genetische Kategorie; eine Rasse hat, so nimmt man an, eine
sichtbare physische Form. Über die Namen und Charakterzüge
von Rassen hat es während der letzten 150 Jahre eine
Vielzahl von gelehrten Diskussionen gegeben, die ebenso berühmt
wie (in vielerlei Hinsicht) berüchtigt sind. - 'Nation' wird
im allgemeinen für eine soziopolitische Kategorie gehalten;
eine Nation hängt auf irgendeine Weise mit den tatsächlichen
oder möglichen Grenzen eines Staates zusammen. - Der
Ausdruck 'Ethnische Gruppe' gilt im allgemeinen als eine
Kategorie des Kulturellen; eine ethnische Gruppe, so wird gesagt,
ist durch eine Kontinuität von Verhaltensweisen
gekennzeichnet, die von Generation zu Generation weitergegeben
werden, und die theoretisch normalerweise nicht mit Staatsgrenzen
zusammenhängen... Mit Hilfe dieser Kategorien können
wir erklären, warum die Dinge so und nicht anders sind und
nicht verändert werden sollten, oder warum sie so und nicht
anders sind und nicht verändert werden können... Die
zeitliche Dimension des Vergangenen ist ein dem Begriff 'Volk'
zentrales und innewohnendes Moment... [Diese Kategorien] sind
Konstruktionen, um sich das Vergangene zu erfinden, es sind
zeitgenössische politische Phänomene. Wenn dem jedoch
so ist, dann stehen wir erneut vor einem analytischen Rätsel.
Warum gibt es drei Kategorien, wo doch eine einzige ausgereicht
hätte? Für die Aufspaltung einer logischen in drei
gesellschaftliche Kategorien muß es irgendeinen Grund
geben. Wir müssen nur die historische Struktur der
Weltwirtschaft betrachten, um ihn zu finden. Jede dieser drei
Kategorien hängt mit einem der strukturellen Grundzüge
der kapitalistischen Weltwirtschaft zusammen. Der Begriff der
'Rasse' ist auf die horizontale Aufteilung in der Weltwirtschaft,
auf die Antinomie von Zentrum und Peripherie bezogen. Der Begriff
der 'Nation' ist auf den politischen Überbau dieses
historischen Systems bezogen, auf die souveränen Staaten,
die internationale Staatensystem bilden und sich von ihm
herleiten. Der Begriff der 'ethnischen Gruppe' ist auf die
Entstehung von Haushaltsstrukturen bezogen, die innerhalb der
Kapitalakkumulation dafür sorgen, daß beträchtliche
Kontigente an nicht entlohnter Arbeit aufrechterhalten werden.
Keine dieser Kategorien bezieht sich direkt auf soziale Klassen,
was seinen Grund darin hat, daß 'Klasse' und 'Volk' auf
zwei senkrecht zueinander stehenden Ebenen verortet sind."
(Kap. 4, Wallerstein, S. 95 - 98)
Entstehung und
Kennzeichen der Nation-Form: "Die nationalen Einheiten...
konstituieren sich gegeneinander als konkurrierende Instrumente
der Herrschaft des Zentrums über die Peripherie,... [obwohl]
in der Geschichte des Kapitalismus auch andere 'staatliche'
Formen als die nationale entstanden sind und sich in Konkurrenz
zu ihr eine Zeit lang behauptet haben, bevor sie dann schließlich
zurückgedrängt oder instrumentalisiert wurden: die Form
des Reiches und vor die des transnationalen
politisch-kommerziellen Netzes, das um eine oder mehrere Städte
zentriert war... Wenn die 'nationalen Bourgeoisien'
schließlich die Oberhand gewonnen haben, ...dann wohl
deswegen, weil sie nach außen und nach innen die bewaffnete
Macht der bestehenden Staaten einsetzen mußten, weil sie
die Bauern der neuen Wirtschaftsordnung unterwerfen und das
flache Land durchdringen mußten, um daraus Märkte für
Manufakturprodukte und Reservoirs 'freier' Arbeitskräfte zu
machen... Der Vorrang der Nation-Form rührt daher, daß
sie zumindest auf lokaler Ebene die Eindämmung der
heterogenen Klassenkämpfe erlaubte und daraus nicht nur eine
'Kapitalistenklasse' hervorgehen ließ, sondern Bourgeoisien
im eigentlichen Sinne, d.h. Staatsbourgeoisien, die fähig
waren, die politische, ökonomische und kulturelle Hegemonie
auszuüben, und die ihrerseits durch diese Hegemonie
geschaffen wurden." (Kap. 5, Balibar, S. 110 - 112) "Keine
moderne Nation hat eine gegebene 'ethnische' Basis, selbst wenn
sie aus einem nationalen Unabhängigkeitskampf hervorgegangen
ist. Und andererseits gibt es keine moderne Nation, wie
'egalitär' sie auch sein mag, in der es keine
Klassenkonflikte gibt. Das grundlegende Problem besteht folglich
darin, das Volk zu schaffen. Besser gesagt: das Volk muß
sich permanent als nationale Gemeinschaft schaffen..." (Kap.
5, Balibar, S. 115) "Als fiktive Ethnizität
bezeichne ich die durch den Nationalstaat geschaffene
Gemeinschaft... Die fiktive Ethnizität fällt nicht
einfach mit der ideellen Nation zusammen, die der Gegenstand des
Patriotismus war, aber sie ist für diesen unverzichtbar,
denn ohne sie würde die Nation eben doch nur als ein Idee
oder eine willkürliche Abstraktion erscheinen: der Appell
des Patriotismus würde sich an niemanden wenden... Wie
wird die Ethnizität geschaffen? Und wie wird sie so
geschaffen, daß sie eben nicht als eine Fiktion, sondern
als ein höchst natürlicher Ursprung erscheint? Die
Geschichte zeigt uns, daß es zwei große
konkurrierende Wege zu diesem Ziel gibt: die Sprache und die
Rasse... " (Kap. 5, Balibar, S. 118/119) "Ideell
assimiliert [die Sprache] 'jeden', hält sie niemanden
zurück. Sie hat zwar tiefstgehende Auswirkungen auf jedes
Individuum (auf seine Art, sich als Subjekt zu konstituieren),
aber ihre historische Besonderheit ist nur an austauschbare
Institutionen gebunden. Je nach den äußeren Umständen
kann sie verschiedenen Nationen dienen (wie das Englische,
Spanische oder auch das Französische)... Um an den Grenzen
eines bestimmten Volkes festgemacht zu werden, bedarf sie
folglich einer zusätzlichen Besonderheit bzw. eines Prinzips
der Abschließung, der Ausgrenzung. Dieses Prinzip ist
die rassische Gemeinschaft... Der symbolische Kern der Idee der
Rasse (und ihrer demographischen, kulturellen Äquivalente)
ist das Schema der Genealogie, d.h. ganz einfach die Idee, daß
die Verkettung der Individuen dazu führt, daß jede
Generation der anderen eine biologische und geistige Substanz
übermittelt und sie gleichzeitig in eine zeitliche
Gemeinschaft stellt, die man 'Verwandtschaft' nennt... Die Idee
einer rassischen Gemeinschaft kommt auf, wenn sich die Grenzen
der Zusammengehörigkeit auf der Ebene der Sippe, der
Nachbarschaftsgemeinschaft und zumindest theoretisch, der
sozialen Klasse auflösen, um imaginär an die Schwelle
der Nationalität verlagert zu werden..." (Kap. 5,
Balibar, S. 122/123)
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Ritschis Kommentar
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I. Einleitung
Rasse, Klasse, Nation - schon vor dem
Treffen, während der gedanklichen Vorbereitung, versuchte
ich, zunächst meine Gefühle bezüglich dieser drei
Begriffe zu ordnen. Klasse erinnerte mich an längst
vergangene, vielleicht "monarchische" Ständesystem;
Rasse erinnerte mich an Tiere und vor allem an Züchtung;
Nation ließ mich Abgeschlossenheit, Eingeschlossensein und
erzwungene Dazugehörigkeit empfinden. Auch nach der
dreitägigen Analyse, der Diskussion über diese
Begriffe, hat sich meine Einstellung nicht geändert.
II:
Definition
Zu den Wörtern Rasse, Klasse, Nation,
deren ausführliche Erklärung, Hintergrund etc. in
Niels' Zusammenfassung erscheint, in aller Kürze. 1.
Klasse Es ist möglich, die Menschen in verschiedene Klassen,
die nach ihrem Wert oder ihren Werten bemessen werden,
einzuteilen. Die Abgrenzung geschieht vorrangig nach unten; "mit
denen haben wir nichts mehr zu tun". Umgekehrt, nach oben,
sorgt das subjektive Wollen für Ungenauigkeiten. Es muß
dabei beachtet werden, daß ein Mensch nicht ausschließlich
einer Klasse angehören muß, sondern sehr wohl
verschiedenen gleichzeitig angehören kann. Es kommt dabei
nur auf die Fragestellung, die vorzunehmende Abgrenzung an, also
darauf, was man einteilen bzw. unterscheiden möchte. So kann
zum Beispiel ein Künstler zur "höchsten Klasse"
seinesgleichen gerechnet werden, im wirtschaftlichen Vergleich
aber der untersten (verarmten) Klasse angehören.
2.
Rasse Rasse, verschiedene Rassen, das bezieht sich zunächst
auf das Biologisch. Es bedeutet, geographisch lokalisierbare
Formengruppen, die sich durch erbbedingte charakteristische
Merkmale mehr oder weniger deutlich voneinander unterscheiden
lassen. Rassentheorien, Rassenideologien versuchen Zusammenhänge
zwischen Körpertypen und Kulturentwicklungen aufzustellen.
Dabei werden kulturelle Fähigkeiten und Entwicklungen der
menschlichen Geschichte auf biologische Ursachen
zurückgeführt.
3. Nation Nation könnte
mit Staat gleichgesetzt werden, vgl. UNO/VN. Ein Staat besteht
juristisch aus einem Staatsvolk, einem Staatsgebiet und er
Staatsgewalt. Dabei bezieht sich Nation hauptsächlich auf
das Staatsvolk. Unter Nation kann man also eine ethnische,
rassische, sprachliche, religiöse oder kulturelle Einheit
verstehen. Eine andere Definition möchte Nation als die
einmalige und unverwechselbare Menge der Ereignisse verstanden
wissen, deren Träger sie ist. Das heißt, die Identität
einer Nation liegt in ihrer Geschichte.
III.
Diskussion
Klasse, Rasse, Nation ist Einteilung,
Abgrenzung, Eingrenzung und Gefühlsduselei.
Alle
drei Begriffe sind gefühlsbesetzte Begriffe. Fast jeder
beliebige Sachverhalt läßt sich unter sie subsumieren
und sie sind glänzend dafür geeignet, eine
menschenverachtende Politik zu rechtfertigen. Es wird keinen
Menschen geben, der zugibt, sein Handeln sei im Grunde
menschenverachtend. Nein, lieber versucht man, sein Handeln zu
rechtfertigen. Auf Gefühlsebene hat das den Vorteil, Massen
"Gleichfühlender" hinter sich zu bringen. "...und
was viele fühlen, kann nicht falsch sein." Ein
Teufelskreis. Klassen sorgen innerhalb eines Volkes dafür,
seinen Platz zu bestimmen. Heute wird eher das Wort "Schicht"
benutzt. Auch wenn keine klaren Abgrenzungskriterien mehr
bestehen, wird diese Einteilung immer noch vorgenommen. In
gewissen Kreisen werden gewissen Menschen (Klassen)
diskriminiert, die nicht dazugehören. Hier wird der Wert des
Menschen bestimmt (im Grunde völlig übereinstimmend mit
der Auslegung des Art 3 I GG, "gleiches soll gleich,
ungleiches nach seiner Eigenart behandelt werden." (Sehr
polemisch!)). Rasse, Rassentheorien, Rassenideologien
(Rassismus) wollen Einteilungen, Abgrenzungen und Ausgrenzungen
schaffen. Um Völker untereinander abzugrenzen, werden in der
Regel Rassentheorien eingesetzt. Sie erfüllen den Zweck,
machtpolitische Interessen durchzusetzen. Die Rasse ist ein
hervorragendes Rechtfertigungsargument für imperiale
(koloniale) Außenpolitik. Ebenso eignet sie sich für
die Innenpolitik, zur Rechtfertigung von Diskriminierungen (vgl.
Asylpolitik). Es gibt aufgrund vielfältiger
Überschneidungen keine klare Trennung der einzelnen Rassen.
Für mich tritt bei der Rassen-Diskussion der ganze
menschliche Widerspruch zutage. Einerseits wollen wir uns von
anderen abgrenzen (Gründe s.o.), andererseits sind wir aber
gerade stolz darauf, daß die wunderbare Natur nicht zwei
sich völlig gleichende Wesen schafft. Nation ist eine
Zwangsvorstellung einer ethnischen, rassischen, sprachlichen,
religiösen oder kulturellen Einheit, die es in Europa kaum
gab und immer durch imperiale Unterdrückung und teilweise
Vernichtung von Minderheiten oder anderen Nationen herbeigeführt
wurde. Ich kann den Begriff Nation nicht neutral sehen. Jeden
Versuch, Nation, nationale Identität etc. salonfähig zu
machen, sollte mit äußerster Vorsicht begegnet werden.
Nation und alles, was in diesem Namen geschah und geschieht, ist
so subjektiv und gefühlsüberladen, daß meiner
Meinung nach von vorneherein eine "gute Absicht" nicht
Anlaß sein kann, wieder von Nation und Nationalem zu
sprechen. Das Wort Nation, vor zehn Jahren in Deutschland
gebraucht, hätte auschließlich die Menschen in der BRD
angesprochen, heute spricht er die Menschen in der DDR und der
BRD an. Das kann nicht an der Sprache liegen, müßte
dann doch auch Österreich dazugehören. Das kann auch
nicht an der ähnlichen Lebensweise liegen, dem gleichen
Standard, den Menschen in der DDR fehlen 40 Jahre des freien
Konsums, besser könnte man dann die gesamte westliche Welt
zu unserer Nation zählen. Dächte man an die germanische
Seele, auch dann wäre es nicht damit getan, ausschließlich
BRD und DDR als eine Nation zu sehen. Das Argument, ein
Nationalitätsgefühl sei vorhanden, das sähe man
doch im Sport, dazu kann ich nur milde lächeln, war doch die
DDR vor ein paar Jahren noch erbitterter Gegner der BRD, da gab
es nichts von irgendeinem Gemeinschaftsgefühl, und gäbe
es eine europäische Fußballmannschaft, in einem
Weltmeisterschaftsspiel fände sie in der gesamten
europäischen Bevölkerung ihre Anhängerschaft. Selbst
die geschichtliche Tradition kann eine Nation nicht objektiv
bilden - auch wenn einige Rechte über diesen Weg versuchen,
den Begriff Nation wieder salonfähig zu machen - denn wie
sollten die letzten 40 Jahre Kapitalismus im Westen und
Kommunismus im Osten noch zusammenpassen? Oder wie sollen das
Saarland, Elsaß, Lothringen mal die Geschichte
Deutschlands, also deutsche Nation, mal die Geschichte
Frankreichs, also französische Nation bilden? Gerade die
Wiedervereinigung muß jedem vernünftigen Menschen vor
Augen geführt haben, daß Nation ein willkommener und
willkürlicher Begriff ist, durch den man auf Gefühlsebene
Ausgrenzungspolitik rechtfertigen kann.
Trotzdem: Rasse,
Klasse, Nation! Ja, wie hätte man sonst rechtfertigen können
vor Europa, vor der Welt, daß die BRD einfach so die DDR
übernimmt? Wie könnte man das Eigentum, die
Besitzstände schützen, wenn nicht durch Abgrenzungen zu
all den Menschen, "die uns nichts angehen?" Nun habe
ich die Abgrenzungen durch Klasse, Rasse, Nation abgelehnt, und
es bleibt ein weißes Blatt, um die Frage zu beantworten,
wie Menschen ein Sicherheitsgefühl vermittelt werden kann,
wonach es sie offenbar dürstet. Man muß irgendwo
dazugehören, mit allen Menschen kann man nicht Freund sein
und alle Kulturen nicht verstehen. Aber dieses Bedürfnis
kann durch die Familie, den Freundeskreis und vielleicht noch die
Region, Stadt oder Dorf gestillt werden. Der Sachse, der Bayer
und der Hamburger (tut mir leid, ich lehne es ab, sprachlich auf
Männerinnen einzugehen) hatten sie, außer daß
sie eine Machtpolitik unterstützen sollten, jemals etwas
gemeinsam? Ich glaube nicht.
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