die creative
gruppe
was
war kunst - was ist kunst - was soll kunst? November
1992, ausgedruckt 12 Seiten
Dabei waren:
Niels
Boeing, Alexander Ebert, Markus Hacker, Richard von Heusinger,
Robert von Heusinger, Henri Schmidt, Karsten Strege
!Kunst?
Kunst kann nicht mehr verbindlich und objektiv definiert
werden. Wer dies nicht akzeptieren will, wird wahrscheinlich
unseren Ideen nicht viel abgewinnen können. Wir jedenfalls
können nicht über die Provokationen, Erweiterungen und
Erschütterungen, die die Kunst in diesem Jahrhundert
durchgemacht hat, hinwegsehen. Deshalb haben wir nach einem
Rahmen gesucht, der diesen Entwicklungen Rechnung trägt, und
in dem sich jeder mit seinem subjektiven Kunstverständnis
wohlfühlen kann. Im wesentlichen ging es uns dabei um die
Bildende Kunst. Das Ergebnis ist kein logisches System, sondern
ein Kompendium von Gedanken, die allerdings keinen Anspruch auf
Neuheit erheben. Vergeßt dies beim Lesen nicht.
1.Debatte
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zum Anfang]
Was ist Kunst? Wer definiert Kunst? Wer ist ein
Künstler? Ist ein Kunstwerk auch ohne Betrachter ein
Kunstwerk? Welchen Anteil hat der Betrachter am Kunstwerk? Ist
ein noch nicht ausgeführtes Konzept auch schon ein
Kunstwerk? Welcher Unterschied besteht zwischen Künstler
und Betrachter?
Ein Ding kann ein Kunstwerk sein, wenn
es durch ein Intention zu einem solchen erklärt oder gemacht
wird. Der Inhalt spielt dabei keine Rolle, und es ist nicht
einmal nötig, daß man dem Ding sofort ansieht, daß
es ein Kunstwerk ist. Die Intention allein ist das Entscheidende:
Sie kann in einer mehr oder weniger komplexen Idee bestehen, die
ausgedrückt werden soll, oder im einfachsten Fall nur aus
dem puren Willen, das Ding solle ein Kunstwerk sein, ohne eine
innewohnende Idee. Das bedeutet in jedem Fall, daß das
Ding als Kunstwerk um seiner selbst willen und wegen einer
speziellen (praktischen) Funktion betrachtet werden wird.
Natürlich muß es nicht von vorneherein funktionslos
sein, um als potentielles Kunstwerk in Frage zu kommen. Eine
Kaffeemaschine oder ein Golf vom Fließband können
beide zum Kunstwerk erklärt werden und trotzdem in ihrer
weiteren Funktion verwendbar sein. Die Tatsache, daß ein
Ding ein Kunstwerk sein soll, verleiht ihm einfach eine neue
Qualität, die es vorher nicht besaß, nämlich für
diejenige Person, die die Intention dazu gehabt hat. Das ist
nicht so absurd, wie es sich zunächst: Wir können
dieser Person nicht beweisen, daß sie lügt - wir
müssen das Ding für uns nicht als Kunstwerk
akzeptieren, aber wir müssen anerkennen, daß es für
die betreffende Person ein Kunstwerk ist.
Bis jetzt ist
das Wort Künstler noch nicht gefallen. Es liegt nahe,
diejenige Person Künstler zu nennen, die die Intention
hatte, ein Ding zum Kunstwerk zu machen. Der Unterschied zwischen
Betrachter und Künstler kann deshalb nicht mehr so scharf
gefaßt werden wie früher üblich. Eine Gruppe von
Betrachtern beispielsweise könnte irgendein Ding als
Kunstwerk anerkennen, daß von niemandem dazu erklärt
worden war. Sie hängen es sich zuhause an die Wand und
betrachten es als Kunstwerk, aber sie hatten die Intention dazu,
kein "eigentlicher" Künstler. Im Normalfall ist
der Künstler natürlich ein bewußt schaffender,
und es wird eine gewisse Akzeptanz von Außenstehenden für
sein Kunstwerk geben. Der einzige Unterschied, der zwischen
Künstler und Betrachter erkennbar bleibt, ist, daß der
Künstler einen Schaffensdrang (aber eben nicht unbedingt im
Sinne von Handarbeit) verspürt, einem Ding durch eine
Intention zu einer neuen Qualität verhelfen will, während
der Betrachter als passives Element im Vorgang nach einem
erklärten Kunstwerk Ausschau hält, weil er sich
irgendeine Bereicherung davon verspricht, dabei aber
möglicherweise Kunstwerke "entdeckt", die bis zu
diesem Augenblick keine waren. Im letzteren Fall wird der
Betrachter zum Künstler, doch seine Motivation war eine
andere: er wollte ein Kunstwerk finden, während der Künstler
eines vorzeigen wollte. Beide nähern sich dem Ding, das
Kunstwerk sein soll, aus verschiedenen Richtungen. Es ist klar,
daß die Intention des Künstlers nicht identisch sein
muß mit der Intention, die der Betrachter in einem
ausgewiesenen Kunstwerk erkennt. Man kann höchstens
beklagen, daß sich der Betrachter nicht die Mühe
gemacht hat, die ursprüngliche Intention nachzuvollziehen
oder gar kennenzulernen. Hier spielt die Institution der
Ausstellung, des Museums eine Rolle. In einer Ausstellung ist die
Kenntnis der persönlichen Intention des Künstlers
zweitrangig geworden, da der Betrachter bei Betreten der
Ausstellung weiß, daß alle Dinge, die ihm gleich
begegnen werden, Kunstwerke sein sollen. Er kann dann die
Kunstwerke verstehen, wie es ihm beliebt.
An dieser Stelle
scheint es angebracht, ein Wort über den Unterschied
zwischen Kunst und Kunstwerk zu verlieren. Wir unter Kunst den
Prozeß, im Laufe dessen ein Ding zum Kunstwerk wird. Über
die Art des Prozesses läßt sich wiederum nichts sagen,
nur daß an seinem Anfang besagte Intention stehen muß.
Dies soll keine Definition sein, und wir werden Kunst und
Kunstwerk des öfteren synonym verwenden. Wir sind uns
allerdings nicht einig, ob unter die potentiellen Kunstwerke
neben konkreten Dingen auch abstrakte fallen. Robert; Henri und
Karsten lassen abstrakte Dinge wie Gedanken oder einen Tag im
Leben ebenso gelten, während Moschess und ich auf einer
Manifestation im Gegenständlichen bestehen (wahrscheinlich
etwas inkonsequent), d.h. abstrakte Dinge müsssen
dokumentiert werden und das Dokument ist dann das Kunstwerk.
Aus
alledem folgt natürlich, daß wir auf einen objektiv
erkennbaren Gehalt von Kunst verzichten, daß wir den
Kunstbegriff nicht mehr am "Wahren, Schönen, Guten"
festmachen, weil diese für jeden anders definiert sein
können. Ritschi ist damit nicht besonders glücklich und
meint, er werde seine Suche nach einem objektiven Kriterium nicht
aufgeben, weil er sicher sei, daß es eines geben
müsse. Diese weite Auslegung von Kunst und Kunstwerk
zwingt niemanden, alle ausgewiesenen Kunstwerke zu akzeptieren.
Wir können nämlich durchaus die Glaubwürdigkeit
einer Intention in Frage stelle, oder bemerken, daß das
Kunstwerk für uns nichts leistet (s. 2. Debatte). Manche
Intentionen verfügen für den einen oder anderen von uns
über keine nachhaltige Ausstrahlung. So kann die Intention
der Kaffeemaschine leicht zurückgelassen werden, indem wir
sie wieder als Kaffemaschine und nur als solche verwenden, obwohl
wir sie ursprünglich in einer Galerie als ausgewiesenes
Kunstwerk gekauft haben. Einen Cezanne beispielsweise würde
hingegen kaum jemand zum Tablett umfunktionieren (was ja
vorgeschlagen wurde). Das zeigt aber nur, daß hinsichtlich
Cezannes Werken eine größere Akzeptanz, ein breiterer
Konsens besteht, nicht aber, daß diese einen größeren
objektiven Kunstgehalt haben. Solange es nur irgendjemanden gibt,
der vom Wert der Kaffeemaschine als Kunstwerk überzeugt ist,
gibt es keine Rechtfertigung, sie objektiv dem Cezanne
unterzuordnen. Die typischen Sprüche von Museumsbesuchernl,
ein ausgestellter Gegenstand sei keine Kunst - denn "das
kann ich auch, so ein bißchen herumklecksen!" -
erübrigen sich vor dem Hintergrund unserer Überlegungen.
Wer sich verarscht vorkommt in einer Ausstellung, mißt
entweder der Intention des Künstlers keine Glaubwürdigkeit
bei oder er versteht sie nicht. Das steht dem Betrachter durchaus
zu, mehr aber auch nicht. Er hat das Kunstwerk nämlich
insofern zu respektieren, als es wie alle ausgewiesenen
Kunstwerke von Rechts wegen geschützt werden muß.
Damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt, den wir leider
nicht "wegdiskutieren" können: Der
gesellschaftliche Konsens, welche Intentionen glaubwürdig
sind, wird im Rechtssystem (in Gestalt der Richter) bestimmen,
welche Kunstwerke schutzwürdig sind, und damit auch, was
gerade als Kunst gilt. Dafür gibt es zwei Beispiele. Das
eine ist die Schließung einer frühen Ausstellung von
Max Ernst und anderen in Köln wegen "Obszönität"
und wegen angeblichen "Betrugs": Vor dem
Polizeipräsidium teilte man ihm mit, er habe für eine
angebliche Kunstausstellung Eintritt verlangt, aber das Gezeigte
habe nicht mit Kunst zu tun gehabt. Das andere Beispiel ist die
Vernichtung des roten Sofas, das in einigen Fotobänden zu
Ruhm gekommen ist, durch die Frankfurter Müllabfuhr auf dem
Messegelände vor einigen Jahren; eine vom Künstler
gestellte Schadenersatzforderung in Millionenhöhe wurde vom
Gericht abgelehnt.
2. Debatte
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Was soll Kunst leisten? Hat Kunst politische
Aufgaben? Ist ein unpolitischer Künstler reaktionär? Kann
Kunst schuldig werden? Ist Kunst Mittel zur Herrschaft? Ist
Kunst moralisch oder ethisch frei? Ist Kunst ernst?
Es
ist klar, daß wir keine objektiven Forderungen an die Kunst
stellen können, wenn wir über keine objektive
Kunstdefinition verfügen, aus der sie sich ableiten ließen.
Wir sind uns immerhin über drei Aspekte der Kunst einig: -
Transzendenz - Provokation - Unterhaltung
Mit
Transzendenz ist die Bedeutung eines Kunstwerks gemeint, die über
anschauliche Begriffe hinausgeht, ins Kontemplative, Meditative
hineinreicht. Man ist intuitiv ergriffen vom Geschaten, verspürt
eine Stimmung, die vom Kunstwerk herströmt. Oder man findet
ein Gefühl dargestellt, daß selbst nicht beschreiben
könnte. Unterhaltung ist im Sinne des Schönen oder
des Komischen zu verstehen, das Geschaute erfreut uns schlicht
und einfach, ob auf intellektuelle oder direkte Art, sei
dahingestellt. Der Aspekt der Provokation enthält die
stärkste rationale Komponente unter den dreien. sie ist
politisch motiviert oder gesellschaftlich selbstreflektierend.
Eine gewisse zeitliche Gebundenheit kann nicht bestritten werden,
das provokative Kunstwerk wird oft zum historischen Dokument,
während der Aspekt der Transzendenz wesentlich zeitloser
ist, als er sich auf vielen Kulturen gemeinsame Erfahrungen und
Gefühle erstreckt. Die ausgeprägteste, zeitliche
Bedingtheit finden wir beim Unterhaltungsaspekt: Vergangene
Schönheitsideale sind mühsamer nachzuvollziehen als
provokative Aussagen oder Gesten. Manchem von uns wird ältere
Kunst deshalb schon eher als Kunsthandwerk vorkommen, d.h. die
ursprüngliche Intention erreicht uns oft nicht mehr,
höchstens auf dem Wege rationaler Auseinandersetzung, selten
jedoch intuitiv.
Bleiben wir bei der Provokation. Ist ein
Künstler in autoritären oder totalitären Systemen
zur Provokation verpflichtet? Wir empfinden es zwar so, die Frage
kann jedoch nicht befriedigend beantwortet werden: So wie man
DDR-Kunst heute Angepaßtheit gegenüber dem
sozialistischen System vorwirft, ist es durchaus möglich,
diesen Vorwurf gegen die Pop-Art hinsichtlich ihrer Rolle im
westlichen Kapitalismus zu erheben. Andererseits bedeutet
Angepaßtheit, selbst gegenüber den Nazis, noch
selbstverständliche Aberkennung des Kunststatusses, solange
bei den betreffenden Künstlern die Intention, in erster
Linie Kunstwerke zu schaffen und keine Propaganda, vorhanden war.
Ihre Glaubwürdigkeit als Künstler jedoch ist in unseren
Augen diskreditiert, da sie in ihrer Kunst eine
menschenverachtende Ideologie zum Ausdruck gebracht oder
unterstützt haben. Man muß trotzdem die ursprüngliche
untersuchen. Bei Auftragskunst, z.B. zur Illustration einer
Ideoogie, aber auch in harmloseren Angelegenheiten (wie Design),
sowie bei sogenannter Hobbykunst besteht die Intention eben nicht
in der Schaffung eines Kunstwerks, sondern in irgendeinem anderen
Zweck. Natürlich können beide Arten nachträglich
zum Kunstwerk erklärt werden, aber nur mit einer
zusätzlichen Intention. Abgesehen davon ist es vorstellbar,
daß die in unseren Augen diskreditierte Kunst der Nazizeit
in anderen Epochen die Kunstmaßstäbe erfüllt und
breite Akzeptanz erfährt (auch wenn man das schrecklich
findet).
Wir haben in der ersten Debatte festgestellt,
daß man Kunstwerken ihre Intention manchmal nicht ansehen
kann, daß es eines Hinweises oder eines Rahmens wie der
Ausstellung bedarf, um uns auf das Vorliegen eines Kunstwerks
aufmerksam zu machen. Dies trifft besonders auf die Provokationen
zu, die die Kunstwelt in diesem Jahrhundert seit Marcel Duchamp
oder Dada erlebt hat. Diese Provokationen verschwinden aber
häufig, wenn der Rahmen entfernt wird. Es wird deutlich, daß
eine Provokation, die nicht anhand traditioneller Kunstformen
sofort als provokatives Kunstwerk erkennbar ist, ein extrem
temporäres Kunstwerk darstellt. Kitschobjekte
beispielsweise, die in einer Ausstellung in irgendeiner Form
provozieren sollen, verlieren dieses Merkmal, wenn sie sich
kommentarlos in einer normalen Wohnung an der Wand wiederfinden,
und man kann nicht mehr ohne weiteres entscheiden, ob sie dort
wegen ihrer Provokation oder wegen ihrer tatsächlichen
Erscheinung (nämlich des Kitsches) zu Ehren gekommen sind.
Damit sind wir wieder bei der Glaubwürdigkeit
angelangt. Wem kauft man seine Provoationen ab, bei wem fühlt
man sich verschaukelt - wie wird also die Glaubwürdigkeit
erzeugt? Die meisten von uns werden sie vom Weg des Künstlers
zur Kunst abhängig machen, von seiner Leidenschaft, seinem
fühlbaren Schaffensdrang und von seiner Persönlichkeit.
Dies ist letztlich noch das traditionelle Künstlerbild, aber
meistens sind wir nicht in der Lage, all das zu prüfen. Zum
größten Teil wird die Glaubwürdigkeit vom
Kunstmarkt erzeugt. Künstler werden aufgebaut, eigenes Image
und gewisse Markenzeichen des eigenen Stils sind unverzichtbar.
Geht es aber hierbei um die Glaubwürdigkeit um der Kunst
oder um des finanziellen Erfolges willen? Ein Feierabendkünstler,
der sein Geld z.B. als Anwalt verdient, wird nach wie vor nicht
recht ernst genommen, aber nicht nur, weil man ihm fehlende
Entschlossenheit unterstellt (er ist kein "Künstler"),
sondern auch, weil die Behauptung auf dem Kunstmarkt nur als
ganzer Job zu schaffen ist. Präsenz und
Selbstinszenierung sind unerläßlich. Das bedeutet
aber, daß ein Künstler, der nicht durch
überwältigenden Erfolg auf eigenen finanziellen Beinen
steht, auf Mäzene angewiesen ist und damit unabhängig.
Das alte Dilemma ist offenbar nach wie vor nicht aufgehoben:
Glaubwürdigkeit braucht Professionalität, diese eine
finanzielle Basis, die nicht aus einem normalen Full-time-job
bestehen kann. Die Basis aber zieht Kompromisse, im schlimmsten
Fall Prostitution für den Kunstmarkt nach sich, die wiederum
die Glaubwürdigkeit angreifen - wenn auch nur für
Leute, die Einblick in das Kunstgeschehen haben.
Wie
sieht es mit der moralischen und ethischen Freiheit des Künstlers
aus? Wie wir aus diversen Künstlerbiographien wissen, sind
viele von ihnen nie leuchtende Beispiele gesellschaftlicher Moral
gewesen. Gottseidank, kann man sagen, da sie gerade aus dem
Gegensatz ihre schöpferische Energie gezogen haben.
Zumindest der Aspekt der Provokation ist ohne ein gewisse
Antimoral des Künstlers gar nicht denkbar. Wie aber sieht es
mit ethischen Grundsätzen aus, Achtungen der Menschenwürde,
Toleranz etc.? Wir erwarten nicht, daß der Künstler
ein leuchtendes Vorbild ist, aber zumindest eine menschliche
Persönlichkeit wollen wir in ihm erkennen.
3. Debatte
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Woher kommt die Kunst, und wohin geht sie? Hat Kunst mit
Bildung und Intellekt zu tun? Welche Beziehung haben Wohlstand
und Kunst? Für wen gibt es Kunst, wird Kunst
gebraucht? Befindet sich die heutige Kunst am Ende ihres
Weges? Was ist eine totale Neuheit in der Kunst?
Kunst
erscheint uns ursprünglich als eine Kommunikation zwischen
sensiblen Menschen. Die einen müssen das, was sie
beschäftigt, in irgendeiner Form darstellen, die anderen,
die nicht darstellen können, sich aber auch mit
übergeordneten Dingen beschäftigen, brauchen die Kunst
als Kristallisationspunkte ihres Empfindens und Nachdenkens Gibt
es jedoch ein Urbedürfnis nach Kunst auf der (passiven)
Betrachterseite, oder mußte die Kunst erst "erfunden"
werden? Sehen wir von der Provokation ab, werden die eher
philosophischen Aspekte der Transzendenz und des Schönen
zunächst durch die Natur befriedigt (z.B. ein Baum als
Symbol eines Gottes), bis die ersten Künstler eine Intention
haben , und sei sie eine zufällige Erleuchtung, die die
Transformation von normalen Dingen zu den ersten Kunstwerken in
Gang setzt. In diesem Augenblick erst wird das Kunstbedürfnis
auf der Betrachterseite angestoßen. Wir sind uns aber nicht
darüber einig; Ritschi und Karsten finden, daß das
Bedürfnis schon vorher in den künftigen Betrachtern
schlummert und nur durch die ersten Kunstwerke geweckt wird.
Das heutige Kunstbedürfnis in der Gesellschaft geht
natürlich weit darüber hinaus. Wir haben drei Faktoren
ausgemacht, infolge derer die Menschen in den
Wohlstandsgesellschaften zur Kunst strömen: 1. Durch den
Wohlstand und die Differenziertheit der Kultur haben Zeit und
Interesse, sich mit abstrakten Dingen zu beschäftigen,
zugenommen. 2. Bildung weckt das Interesse, indem sie
Einblicke in Probleme und Zusammenhänge vermittelt, die
gleichzeitig Sujets der Kunst sind. 3. Zeitgeist und Prestige
leisten ihren Teil zum Kunstboom der letzten Jahrzehnte. Alle
drei Faktoren hängen miteinander zusammen, oft treten sie
sie alle zugleich als Ursache auf. Auf jeden Fall hat aber das
gesteigerte Kunstinteresse zu der immer schnelleren Ausreizung
neuer Ideen und Stile geführt. Wie geht es mit der Kunst
weiter?
An dieser Stelle sei kurz das Baummodell erklärt,
das ich zur Diskussion gestellt habe. Die Kunst ist wie ein Baum,
dessen Zweige sich im Laufe der Zeit im feiner verästeln.
Irgendwann sind die neuen Zweige unbedeutend klein im Verhältnis
zum ganzen Baum (es geht nicht darum, ob er aufhört zu
wachsen). Die Dicke der Äste ist als Grad der Neuheit eines
neuen Stils zu verstehen. Nach diesem Modell werden in Zukunft
nur noch Stile entstehen, die nicht mehr besonders neu wirken,
eher wie eine neue Kombination bekannter Stile. Man kann sich
jedenfalls kaum vorstellen, was kommen soll, das einen noch in
sprachloses Erstaunen versetzt. Dabei geht es nicht um neue
Medien und Techniken - es ist klar, daß da noch alles
Mögliche kommen kann, z.B. in der Holographie. Wie aber
sieht es in bereits alten Kunstrichtungen wie der Malerei aus?
Darüber sind wir völlig uneins. Robert, Moschess und
ich glauben, daß die zweidimensionale Darstellung ziemlich
ausgereizt ist, Ritschi hingegen meint, daß auch hier echte
Neuheiten auftauchen werden, weil es bisher immer so war, es
würde uns dreien nur an der nötigen Phantasie mangeln.
Für Literatur und Musik kann man dieselbe Frage stellen. Ist
das Universum, das das Bewußtsein eines einzelnen
darstellt, ist seine Gedankenfülle unendlich oder nicht?
Wenn sie es ist , kann man daraus auf unendlich viele echte
Neuheiten schließen. Aber die reale Lebenswelt ist endlich,
und sie liefert doch das Material für die Kunst. Robert
glaubt z.B., daß die Literatur im Gegensatz zur Malerei
nicht ausgereizt ist, da beide nicht gleichwertige Medien seien.
die Methoden mögen begrenzt sein, aber solange neue Menschen
geboren werden, gibt es immer wieder neue Ideen, weshalb es nicht
auf die Endlichkeit eines Einzelbewußtseins
ankommt. Karsten stellt sich die Kunst wie einen Zeitschlauch
vor: die Verästelungen, die aus der Mitte streben, bilden am
ende die Schlauchhülle. Jede Scheibe des Schlauchs, die eine
bestimmte Zeit repräsentiert, sieht anders aus und bietet zu
verschiedenen Zeiten verschiedene Verästelungen der Kunst,
die von uns wahrgenommen werden können. Hier geht es nicht
mehr weiter, wir sind bei unbefriedigenden Spekulation angelangt.
Uns bleibt leider (?) nichts, als die Dinge auf uns zukommen zu
lassen.
Kommentare
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Nach der Revolution: Zynismus oder Meditation?
(Niels)
Vor 80 Jahren beherrschte akademischer Muff und
völlige Biederkeit die etablierte Kunstwelt. Dann blies Dada
zu einer Revolution, die alles hinwegfegte und eine Kunstdynastie
inthronisierte. Pop-Artler, Junge Wilde und andere Wüste
hießen am Ende die neuen Könige, die außer der
Besetzung der Akademien auch ein richtiges Business aufzogen. Der
Bohemien ist tot, gelitten wird nicht mehr, man ist jetzt High
Society, eine Zierde des Kapitals und obendrein recht
demokratisch, frei nach dem American Dream, da jeder ein Künstler
werden kann. Ist die Kunst endlich liberal, frei und
aufgeschlossen? Nein. Die Alten haben ihre Revolutionsattitüden,
zu provozieren und sich von der Masse abzuheben, so
verinnerlicht, daß sie diese jetzigen Künstlergenerationen
als den wahren Charakter einbläuen. Vergessen die Umstände,
die diese Eigenschaften in diesem verrückten Jahrhundert
heraufbeschworen. Jedoch, wenn sich niemand mehr provozieren
läßt, wird jeder Provokationsversuch lächerlich.
Das typische Schicksal siegreicher neuer Ideologien, die in
denselben Dogmatismus verfallen, den sie so vehement bekämpft
hatten. Es ist vorbei, es gibt keine Provokation mehr. Die
politischen Zeichen der Zeit stehen indes auf Sturm, und in den
nächsten 20 - 30 Jahren wird es um Unterhaltung und
Kontemplation gehen. Wer Unterhaltung als die niedere Sphäre
der Kunst erachtet, wird sich der Kontemplation zuwenden, dies
gilt für den Künstler wie für den
Betrachter. Kontemplation als Programm: Die Kunst begleitet
nicht länger die Zerstörung des Sinnzusammenhangs,
sondern öffnet Türen zu einem neuen. Sie muß mehr
denn je ein Gewissen der Menschlichkeit verkörpern, ohne ins
Glatte, ins Beschränkte abzugleiten, eine Menschlichkeit
entwerfen helfen, die etwas anderes als Konsumfreiheit ist. Sie
wird aber auch Rückzugsmöglichkeiten ins Innere,
Sphären der Ruhe bieten, um die Gefechte um diese neue
Menschlichkeit aushalten zu können. Das ist es, was ich
von der Kunst im allgemeinen erwarte und wozu es mich drängt,
wenn ich selber male.
Moschess' Kommentar
Mit unserer Kunstdefinition, so offen sie auch ist, bin ich
sehr zufrieden. Objektive Kriterien zur Bewertung eines
Kunstwerks kann es nicht geben. Man könnte höchstens
Aussagen über die Technik oder den Materialaufwand usw.
machen, was aber letzendlich nichts über die eigentliche
Güte des Werks aussagt. Marcel Duchamp sagte schon in den
20er Jahren, daß es nicht auf "Stil und
Selbstkreation", sondern auf die Idee ankommt (z.B. das auf
den Kopf gestellte Pissoir, das er als Fontaine
bezeichnet). Somit läßt dieser Kunstbegriff den
Qualitätsbegriff offen. Ob Kunst "gut" oder
"schlecht" ist, hängt von der Beurteilung des
jeweiligen Beobachters ab. Im Hinblick auf die Frage, ob
abstrakte Dinge wie z.B. Gedanken schon Kunstwerke sein können,
denke ich, daß der Idee, ein Kunstwerk zu kreieren, ein
Schaffensakt folgen muß (Manifestation im
Gegenständlichen). Ein Musikstück muß ja auch
anderen Leuten zugänglich gemacht werden, entwder nur als
Partitur oder aufgeführt oder auch auf einem Musikträger.
Bei einem Kunstwerk wäre z.B. eine schriftliche Anleitung,
wie ein Werk zu schaffen sei, ausreichend. Damit wird es auch dem
"Betrachter" zugänglich. Genau dieses, die
Zugänglichkeit für den Betrachter, ist für mich
ein weiteres Kriterium für ein Kunstwerk. Dieses wird meist
einfach durch die "Manifestation im Gegenständlichen"
erreicht. Jetzt noch einmal zur Frage, ob Kunst provozieren
soll und ob Kunst schuldig werden kann. Es wird heute oft davon
gesprochen, daß "Kunst" im Dritten Reich schuldig
wurde. Meiner Meinung kann man diesen Vorwurf nicht auf Kunst
allgemein, sondern nur auf betreffende Künstler beziehen.
Jeder einzelne sollt sich - nach unseren moralischen
Vorstellungen - einem totalitären System widersetzen, sich
dagegen auflehnen und provozieren. Hier stehen dem Künstler
andere Mittel zur Verfügung, da er durch ein Kunstwerk mehr
Menschen erreicht. Allerdings ist es nicht die primäre
Aufgabe eines Künstlers zu provozieren, sondern in ihm
entsteht ein Bedürfnis, etwas zu schaffen. Solange er sich
nicht von den entsprechenden Machthabern mißbrauchen läßt,
indem er für sie arbeitet und so unterstützt, wird er
nicht direkt schuldig. Am Ende noch zur Frage, wohin die Kunst
geht, ob es noch etwas weltbewegend Neues in der Kunst geben
wird. Ich muß gestehen, daß ich in diesem Punkt
unschlüssig bin. Einerseits kann man davon ausgehen, daß
immer neue Ideen geben wird, solange Menschen existieren.
Veränderte Gesellschaften und auch Techniken der Kunst geben
Raum für neue Entwicklung. Dagegen steht unsere
Erfahrung, daß sich die Kunst in den letzten Jahrzehnten
nicht (viel) weiterentwickelt hat. Viele außergewöhnliche
und auch abartige Dinge wurden versucht, aber auch diese sind
nicht mehr neu. Wie es weitergehen wird, können wir nicht
sagen, warten wir's ab!
Anmerkungen zum "Kunsttreffen"
(Ritschi)
Mit etwas Abstand (fast eineinhalb Jahre)
habe ich das Protokoll "Was ist Kunst..."
wiedergelesen. Ganz abgesehen davon, daß es Spaß
machte, muß ich auch ein wenig Kritik üben und möchte
meine neuen Gedanken dazu äußern.
I.
Kritikpunkte
Auf Seite drei heißt es, alle
Kunstwerke, die als solche ausgewiesen sind, seien von Rechts
wegen geschützt; weiter unten (gekürzt), daß der
Richter bestimme, was Kunst ist. Der Kunstbegriff ist natürlich
umstritten insbesondere bezüglich der bildenden Kunst.
Trotzdem wird bei der bildenden Kunst als Eingrenzungskriterium
verwand, daß sie von der "Allgemeinheit"
anerkannt sein muß, was im Zweifel über
Sachverständige (Kunstkritiker, Lehrer etc.) festgestellt
wird. Insofern ist von Art. 5 GG nicht das als Kunst ausgewiesene
geschützt, sondern das als Kunst anerkannte. Und der
Richter hat zwar das letzte Wort in einem Rechtstreit über
Kunst (im Zweifel sogar gegen einen Sachverständigen), aber
in erster Linie ist der Richter nicht Richter darüber, was
Kunst ist, sondern Streitschlichter, der insofern den
Rechtsfrieden wiederherstellen soll.
II. "Neue"
Gedanken zum Text
1. Immer noch bin ich auf der such nach
dem objektiven Kunstbegriff, ohne ihn bisher ausfindig gemacht zu
haben. Das ändert aber nichts daran, daß der im
Protokoll dargestellte inflationäre Kunstbegriff mich weder
befriedigt, noch meine volle Zustimmung findet. Wir sprachen
hauptsächlich von der bildenden Kunst. Dennoch bezeichneten
wir auch Schriftsteller als Künstler. Folglich ist ein Buch
auch ein Kunstwerk, fällt unter den Begriff Kunst. Ein
Schriftsteller, der den schönsten, besten Roman nur in
seinem Geiste geschrieben hat, wird schwerlich als Künstler
bezeichnet werden können, bevor er nicht einen Satz aufs
Papier gebracht hat. Ein Schriftsteller wird auch nicht dadurch
zum Künstler, indem er das Geschriebene eines Dritten als
Kunstwerk ausgibt. Vielmehr kann man erst dann vom Künstler
sprechen, wenn er die Intention hat, selbst ein Kunstwerk
herzustellen und mit dieser Intention auch etwas schafft ("aufs
Papier bringt"), das ist die mindeste
Voraussetzung. Übertragen auf bildende Künstler
bedeutet das wenigstens eine kleine weitere Begrenzung.
2.
Wer ist Künstler? Auch hier stört mich die
"Künstler-Inflation", zu der das Protokoll
tendiert. In jedem von uns steckt ein Künstler, ja? Ich
glaube, nirgendwo kann man so gut feststellen wie beim Künstler,
ob es sich bei dem Beruf, den man ausübt, um seine Berufung
handelt. Fühlt man sich berufen, lebt man für die, für
seine Kunst. Der Feierabendkünstler, der sein Image pflegt,
fühlt sich anscheinend zu anderen Kingen viel mehr berufen,
traut sich anscheinend nicht seiner Berufung zu folgen - wie man
möchte. Um aber Künstler sein zu dürfen, muß
man es ganz sein. Alles andere sind Auswüchse unserer
Wohlstandsgesellschaft, der das Geld und die Zeit zur Verfügung
steht, nebenbei noch ein über allem stehender Künstler
zu sein.
3. Zur Unendlichkeit der Kunst Mir gefällt
das Bild des Baumes recht gut, besser als vor eineinhalb Jahren.
Obwohl ich meinen damaligen Optimismus immer noch nicht aufgeben
will, insbesondere nicht, vergleicht man wiederum die bildende
Kunst mit der Schriftstellerei.
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