für eine neue
kulturrevolution: die
98er Berlin,
28. März 1997, ausgedruckt 4 Seiten
An der Schwelle zum
21. Jahrhundert steht die Welt vor der tiefsten Krise ihrer
Geschichte, und wir werden darin nicht Zuschauer sein!
Veränderung; liegt in der Luft, und Ihr fühlt es, so
sehr Ihr Euch auch noch davor verschließt! Das Ende des
Ost-West-Konflikts hat sich nicht als Auftakt der langersehnten
Friedensepoche erwiesen, sondern tiefgreifende Verwerfungen
bloßgelegt. Gewaltige Eruptionen kündigen sich an.
Heute sind es
Allgemeinplätze: Die westliche Produktionsweise mündet
notwendigerweise in überflußgesellschaften; die Umwelt
wird nicht mehr lange durchhalten, sollten wir so weitermachen
und den Milliarden anderen Menschen unseren Weg aufzwingen; der
Wohlstand unserer Gesellschaften wurde nur durch
Arbeitsmarktabschottungen und kolonialistische Ausbeutung
aufgebaut. Solange Eigentum nicht in allen Teilen der Welt
garantiert war, teilte das westliche Kapital seine Pfründe;
mit den Arbeitnehmern; jetzt kann es weltweit Profite machen, die
Arbeiter der Dritten Welt dürfen; aber nicht zu uns kommen,
und in unseren Gesellschaften werden die Armen ärmer; und
die Reichen reicher! Die Logik des Systems macht ein Handeln im
System unmöglich. Durch die Globalisierung werden wir dazu
verdammt, die brutalen Regeln mitzuspielen oder zusammenbrechen.
Spielen wir jedoch weiter mit, werden wir Verteilungskriege
zwischen Süd; und Nord provozieren sowie plan- und ziellose
Revolutionen bewirken, deren Folge eine weltweite Renaissance des
Faschismus sein kann.
Ein Machtwechsel,
eine andere Politik reichen nicht aus, um aus der Sackgasse zu
kommen. Es geht um eine Kulturrevolution, wie sie von den 68ern
versucht und nicht vollendet worden ist. Die 68er haben viel
bewegt, mit einem Wertesturm die hohlen bürgerlichen
Tugenden hinweggefegt. Sie wollten die materiell verstandene
Freiheit des Kapitalismus gerechter verteilen. Doch sie bauten
auf denselben geistigen Grundlagen auf wie die Kapitalisten, die
sie bekämpften, nicht anders als der real existierende
Sozialismus im Osten. Die Faszination des Sozialismus hat sie
noch nicht den Kern des neuzeitlichen abendl¨ndischen;
Denkens in Frage stellen lassen, nämlich Rationalismus und
Materialismus.
Die Aufklärung,
die vor 200 Jahren als geistiger Befreiungsschlag Europa
überwältigte, versprach ein Aufbruch in eine lichte
Zukunft zu werden. Heute sehen wir, daß das
analytisch-rationale Denken im Komplex Wissenschaft - Technik -
Kapitalismus übermächtig geworden ist. Nie wähnten
sich die Menschen stärker und gottgleicher, nie waren sie
leerer und entmenschlichter als in den heutigen Industriestaaten.
Wenn wir eine neue,
zukunftsfähige Zivilisation schaffen wollen, müssen wir
zuerst unser Denken revolutionieren. Ganzheitlichkeit, Kunst,
Jazz sind Denkweisen, die eine Balance zum analytisch-rationalen
Denken herstellen können. Nur so werden wir das ganze Leben
in all seiner Unberechenbarkeit verstehen lernen. Und nichts
weniger als das ganze Leben muß Grundlage unserer
Erkenntnis sein. Nichts ist von vorneherein banal, nichts
bedeutend.
Fangen wir also
damit an, daß wir mit allen Sinnen zuhören lernen -
uns selbst und der Natur. Wir werden erkennen können, was
wir wirklich wollen, und was wir nur tun, weil jemand behauptet
hat, daß wir es tun müßten, um dazu zu gehören.
Lassen wir die Antwort zu: "Das brauche ich nicht. Das bin
ich nicht." Das Leben sind die Menschen, sind wir alle, und
nicht das, was wir haben und besitzen.Die Maxime des ausgehenden
20. Jahrhunderts: "Immer mehr und immer neuer ist immer
besser" hat uns zu Konsumjunkies werden lassen, die die
Dosis ständig steigern müssen. Glück ist etwas
anderes als die größtmögliche Zahl von
Konsumakten. Glaubt ihr im Ernst, daß wir am Ende alle eine
Villa, zwei Mittelklassewagen und drei Fernseher haben sollten?
Der nächste;
Schritt muß unseren Werten gelten. Die Mühe, einen
Wertekonsens immer wieder auf Neue auszuhandeln und zu begründen,
bleibt uns nicht erspart. Das ist Demokratie. Glauben wir nicht
denjenigen, die vom Werteverfall schwadronieren, gleichzeitig
aber alles dafür getan haben, daß ein euphemistisch
Wettbewerb genannter Darwinismus am Ende nur Egoismus und
überlebenstrieb als Werte bestehen läßt.
Solidarität,
Kooperation und Sich-Nicht-Zu-Ernst-Nehmen heißen die neuen
alten Zauberworte. Die Faszination der Endlichkeit und
Vergänglichkeit setzen wir gegen das überziel "Ewiges
Leben auf Erden" - mit Genmanipulation -, die kleinen
Einheiten gegen große, totalitäre Strukturen.
Langsamkeit, ästhetik, Glaubw¨rdigkeit, Gerechtigkeit
sind weitere Werte, auf denen wir eine Utopie aufbauen können.
Die Suche nach der Harmonie - zwischen Liebe und Egoismus - wird
uns das Leben an sich wieder groß und wundervoll erscheinen
lassen.
Das neue Denken kann
sich nicht in der Enge nationalstaatlicher Kategorien entfalten.
Schluß mit dem Unsinn des Nationalstaates als großer,
mythischer Familie, die immer nur zur Rechtfertigung von
Aggression nach innen und nach außen gedient hat. Das erste
Ziel heißt Europa. Der Euro schafft Fakten, an denen die
Nation zugrunde gehen wird - endlich. Beginnen wir ein
politisches Europa von unten, als Bürgerrechtsbewegung, ein
Europa der Regionen.
Die 98er, die neue
Generation, 30 Jahre nach den 68ern und 150 Jahre nach dem
Kommunistischen Manifest, werden für eine Werte-Revolution
kämpfen, die das Leben und den Menschen wieder zum Ziel hat,
nicht mehr Konsum und Selbstverwirklichung.Wir rufen Euch auf,
selbständig zu denken, alte Gleise zu verlassen, alles in
Frage zu stellen und nichts für selbstverständlich zu
halten. Wenn Ihr diesen Weg beschreitet, besteht eine Chance.
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