"der staat muss kompensieren"
Ein Interview von Robert von Heusinger, Frankfurt, April 2004

Bundesregierung und Notenbank sollten die notwendigen Reformen mit höheren Ausgaben und niedrigeren Zinsen unterstützen, sagt der amerikanische Wachstumsforscher Robert Solow

Deutsche Ökonomen behaupten oft, das magere Wirtschaftswachstum resultiere aus den Verkrustungen am Arbeitsmarkt. Stimmen Sie zu?

ROBERT SOLOW: Nur zum Teil. Es ist zwar richtig, dass der deutsche Arbeitsmarkt überreguliert ist und es deshalb schwerer ist als in anderen Ländern, neue, produktive Firmen zu gründen. Das hemmt das Wachstum. Aber was mich an der deutschen Reformdebatte schon immer gestört hat, ist ihre hundertprozentige Fixierung auf den Arbeitsmarkt als Grund allen Übels.

Konkret werden von hiesigen Experten häufig drei Maßnahmen genannt, um die deutsche Wirtschaft zu retten: eine deutliche Lohnsenkung für alle, mindestens 42 Stunden Arbeit pro Woche und dazu die vollständige Abschaffung des Kündigungsschutzes. Gehen diese Vorschläge in die richtige Richtung?

SOLOW: Nein. Denn selbst ein völlig liberalisierter Arbeitsmarkt wird die Wirtschaft nicht retten. Genauso wichtig sind Reformen und Deregulierung auf den Produktmärkten – zum Beispiel die Freigabe der Ladenöffnungszeiten, weniger Bürokratie bei der Gründung neuer Firmen oder weniger strenge Auflagen für die Nutzung von Land. Ich lebe nicht in Deutschland, aber was ich über die deutsche Wirtschaft herausgefunden habe, zeigt recht klar, dass in vielen Wirtschaftsbereichen Überregulierung und zu wenig Wettbewerb herrschen.

Sie denken an den Strommarkt, auf dem einige wenige Unternehmen die Preise hochhalten, oder den Meisterzwang in vielen Handwerksberufen?

SOLOW: Das sind Beispiele. Ich würde immer vorschlagen, den Arbeitsmarkt zu deregulieren, aber in noch stärkerem Maße die Märkte für Güter und Dienstleistungen. Wenn sich dort etwas in Richtung mehr Wettbewerb tut, kommt der Anstoß in der Regel aus Brüssel, nicht aus Berlin. Aber noch wichtiger für mehr Wachstum scheint mir etwas anderes zu sein: eine vernünftige Geld- und Fiskalpolitik.

Das heißt konkret?

SOLOW: Die Geld- und Fiskalpolitik muss expansiv sein, damit die Menschen mehr Jobs erwarten dürfen und damit sie die Härten der Arbeitsmarktreform bereitwilliger ertragen. Allein über Lohnsenkungen mehr Wachstum zu erwarten ist ein langwieriger und unnötig schmerzvoller Prozess.

Die gegenwärtigen Regeln Eurolands verbieten aber eine expansive Fiskalpolitik. Sie kennen doch den Stabilitäts- und Wachstumspakt?

SOLOW: Wenn der Stabilitäts- und Wachstumspakt einer vernünftigen Politik im Weg steht, sollte Deutschland all seine Energie aufwenden, um diesen Vertrag loszuwerden. Dieser Pakt ist ein Dinosaurier. Er war in Form der Maastricht-Kriterien vielleicht im Vorfeld der Währungsunion notwendig, jetzt aber ist er viel zu kurzfristig ausgerichtet und schadet mehr, als er nutzt. Unvorstellbar, dass die deutschen Politiker den Arbeitern zurufen: „Ihr allein müsst durch Lohnverzicht die deutsche Wirtschaft retten, weil wir durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt gehindert sind.“ Das kann nicht gut gehen.

Die Bundesregierung hat die ersten Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht. Die Menschen fürchten weitere Einschnitte, sparen mehr und konsumieren weniger. Das Wirtschaftswachstum springt nicht an.

SOLOW: Genau deshalb ist die Unterstützung der Reformen durch eine expansive Fiskalpolitik so ungeheuer wichtig.

Auch wenn der Schuldenstand Deutschlands dann über der Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandproduktes liegt, die der Stabilitätspakt vorgibt?

SOLOW: Die Arbeitsmarktreformen wirken sich negativ auf die Nachfrageseite der Wirtschaft aus, sie reduzieren die Konsumausgaben und die Investitionsausgaben – jeder Volkswirt weiß das. Also muss der Staat den erwarteten Nachfrageausfall kompensieren.

Warum weisen die deutschen Vorzeigeinstitutionen Bundesbank und Sachverständigenrat nie auf diese Zusammenhänge hin?

SOLOW: Bundesbank und Sachverständigenrat haben schon immer den theoretischen Glauben zu ernst genommen, dass es allein notwendig sei, die Inflation im Griff zu haben – und Produktion und Beschäftigung würden dann von selbst in ein Gleichgewicht kommen. Selbst wenn diese Theorie zutreffen sollte, dann höchstens ganz langfristig. Es gibt keinen guten Grund, so lange zu warten.

Kann man Denken und Handeln von Bundesbank und Sachverständigenrat dogmatisch nennen?

SOLOW: Dogmatisch ist ein schönes Wort dafür.


Siehe auch: "Der Mythos vom Abstieg", eine Analyse zu den wahren Ursachen der deutschen Malaise

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