kapitalismus vs.
freie marktwirtschaft

Christoph Noebel, London, September 2003

Wer kritische Worte über die Macht des Kapitals verliert, ist nicht automatisch ein Gegner der freien Marktwirtschaft. Ein Plädoyer gegen die Verwirrung der Begriffe und die grassierende Oberflächlichkeit ökonomischer Argumentation

Es wird häufig der Fehler gemacht, den Begriff ‘Kapitalismus’ mit ‘freier Marktwirtschaft’ gleichzusetzen. Nur weil es das politische System erlaubt, dass Firmen frei und mit wenig Einschränkungen gebildet werden können, bedeutet dies nicht, dass die beiden Begriffe identisch sind. Natürlich schließen sich die beiden Begriffe auch nicht aus, doch private Firmen würden nicht monopolistische Positionen ablehnen, solange sie selber davon den Nutzen genießen, und staatseigene Firmen können sich ebenfalls in einer freien Marktwirtschaft behaupten. Was heißt also “Kapitalismus”? Wie steht es mit dem Verhältnis zwischen “Kapitalismus” und “freier Markt”?

Wie der Name schon aussagt, hat das System des Kapitalismus mit dem Produktionselement Kapital zu tun. Für Firmen gibt es mehrere Möglichkeiten sich das notwendige Geld zu beschaffen um produktionsfähig zu sein: Kredite, Anleihen und Aktien. Bei dem Begriff “Kapitalismus” spielt jedoch nur die Aktie eine wichtige Rolle, die daher häufig mit ‘Kapital’ gleichgesetzt wird. Nicht nur ist das Kapital, sprich Aktie, wichtig als Produktioneinheit, es ist die grundlegende Instanz im Entscheidungsprozess einer ‘privaten’ Firma; daher auch der Name “Aktiengesellschaft”. Durch die Vollversammlung der Aktionäre, entscheidet das ‘Kapital’ über den Werdegang und Zukunft solch einer Firma. Wichtig ist, dass das Kapital von ‘außen’ kommt; die Besitzer von Außenkapital nehmen jedoch am täglichen Geschehen und der Produktion der Firma nicht teil. Für diese externen Aktionäre ist Profit der einzige Grund für ihre Investition; sie sind Spekulanten, die Risiken auf sich nehmen, und werden auch mit Recht ‘Kapitalisten’ genannt. Ein Wirtschaftssystem, in dem also dieses Außenkapital das letzte Wort hat, heißt Kapitalismus.

Was sind die Alternativen? Hier gibt es ein Spektrum von Variationen. Die puren staatsgelenkten Produktionskonglomerate der früheren Sowjetunion und China liegen auf der einen Seite und die reinen Aktiengesellschaften des Kapitalismus auf der anderen. Wichtig ist der Grad, in dem das Kapital Mitspracherecht hat. Im Realen Sozialismus hatte es keins; im Kapitalismus hat es dagegen ausschließliches Entscheidungsrecht.

Dazwischen liegen einige Variationen und Modelle, in denen die “Arbeiterschaft” Mitspracherecht haben. Die Deutsche Mitbestimmung durch Betriebsräte ist zwar ein Zugeständniss zur Mitsprache, doch das letzte Wort bleibt bei der Vollversammlung der Aktionäre. Das ist jedoch anders bei “Partnerschaften”, wie zum Beispiel die Englische Kaufhauskette John Lewis. Diese Firma ‘gehört’ den Angestellten, die als einzige Aktionäre auftreten und somit als Einzige über die Entwicklung der Firma entscheiden, ohne Außeneinwirkungen von externen ‘Kapitalisten’. In diesem Falle gibt es zwar auch Kapitalisten, doch diese sind gleichzeitig das Produktionselement “Arbeiter”. Die Entscheidungen dieser Aktionäre wird nicht ausschließlich vom Profit geleitet, sondern auch von Kriterien wie Arbeitsbedingungen und Produktqualität. Die langfristige Profitabilität bleibt natürlich auch in solchen Firmen die wichtigste Maxime, denn Überleben im freien Markt muß auch sie. Wäre dieses arbeiter-freundliche Model weit verbreitet, könnten wir nicht mehr vom Kapitalismus sprechen, sondern von einer Art marktorientiertem Sozialismus. Zwischen diesem Partnerschafts-Modell und der reinen Aktiengesellschaft, die nur durch Außenkapital finanziert wird, gibt es natürlich viele Schattierungen. Selbst der Besitz des Kapitals ist nicht so sehr das Problem, es ist das Mitspracherecht, das damit verbunden ist. Die Frage ist warum Spekulanten, deren Berechtigung an sich nicht in Frage gestellt wird, das Monopol der Entscheidungsmacht haben sollten.

Abgesehen von den ‘privaten’ Firmen, gibt es die staatseigenen Konzerne, die sich ausschließlich mit ökonomisch-strategischen Aspekten befassen sollten; also Wasser, Energie, Transport und vielleicht Kommunikationssysteme. Trotz der Privatisierungsaktionen in diesen Sektoren während der letzten zwanzig Jahre bleibt die Frage, inwieweit diese Firmen auch wirklich privat sind. Die Grundregel einer privaten Firma ist, dass sie pleite gehen kann, wenn sie schlecht geleitet wird, so dass der Aktionär dann rechtmäßig seine Investition verliert; dies war zum Beispiel nicht der Fall bei der maroden Firma Railtrack, die für das Warten der Englischen Eisenbahnlienien verantwortlich war. Außerdem ist zu überlegen, ob es einen Sinn macht, ein Staatsmonopol in eine ‘privates’ Monopol zu verwandeln. In öffenlichen Staatsfirmen muß eingestanden werden, dass die Produktion nicht einzig auf Profitmaximierung beruhen kann, sondern unter anderem auf die Auflage von kontinuierlichem Bedarf. Wie wir kürzlich in den USA gesehen haben, sind private Firmen dazu nicht unbegingt in der Lage.

Nun zum Thema “freier Markt”. Der Markt für ein bestimmtes Produkt besteht aus einer Vielfalt von Firmen, die in Konkurenz zueinander stehen; ihr Ziel ist es, bei den Kunden die richtige Menge des Produktvolumens zu verkaufen um ihre Profite zu maximieren. Die Stategien der Firmen, um dies zu erreichen, mögen sich von Fall zu Fall ändern, doch die Maxime bleibt die Profitmaximierung. Der Kunde entscheidet bei welcher Firma er kauft: der wichtigste - aber nicht der einzige - Faktor in dieser Entscheidung ist der Preis. Der freie Markt ist also ein Verteilungssystem von Gütern, und im Vergleich zur Planwirtschaft des Realen Sozialismus’ bei weitem das effizientere.

Das Konzept des freien Marktes verlangt zwar freien Zugang für neue Firmen, besagt jedoch nichts über die Form und Gestaltung der Firmen, die sich darin befinden. Alle Spieler im Markt brauchten Kapital; der Markt verpflichtet aber nicht, wie sie sich ihr Kapital beschaffen. Es ist durchaus möglich, dass die notwendigen Investitionen ohne Außenkapital finanziert werden, wie es bei kleinen Firmen häufig der Fall ist. Wenn es jedoch Aktionäre gibt, müssen diese nicht unbedingt von außen kommen, sondern können auch firmenintern ‘rekrutiert’ werden. Außerdem, wenn es Aktionäre gibt - extern oder intern -, verbietet der freie Markt nicht Regeländerungen, die darauf bedacht sind, die Mitspracherechte bei der Vollversammlung auf ein breiteres Spektrum zu verteilen. So wäre es durchaus möglich das 30% der Entscheidungsgewalt bei den Angestellten liegt, 49% beim ‘Kapital’ und 21% bei Interssensgemeinschaften, die stellvertretend für die ‘Gesellschaft’ stehen. Die letztere Gruppe ist natürlich schwerer zu definieren, zumal viele Firmen multinational auftreten, doch sie könnte vielleicht mit festgelegten Prozenten aus Konsumerschutz, Umweltsorganisationen, Industrie/Handelsvertretern und Gewerkschaftlern zusammengestellt werden.

“Kapitalismus” und “freier Markt” sind also zwei Konzepte die zwar gut zusammenpassen, aber nicht unbedingt zusammengehören. Die Verwirrung um die Bedeutung dieser beiden Begriffe entsteht unter anderm dadurch, dass das “Außenkapital” zum großen Teil durch den Aktienmarkt geregelt wird. Das heißt die Beschaffenheit der Entscheidungsträger in Firmen wird selber durch einen freien Markt bestimmt, dessen einziges Motiv Profitmaximierung ist. Natürlich gibt es hier verschiedene Schattierungen, von kurzfristigen Investoren bis langfristigen Anlegern, die alle fünf Jahre mal ins Portfolio schauen; jedoch alle sind Spekulanten und entscheiden über die Zukunft der Wirtschaft. Das Problem ist in keinem Falle, ob es Spekulanten geben soll oder nicht, sondern die Frage, ob diese Gruppe von Menschen die wichtigste Entscheidungsinstanz der Firmenlandschaft bilden soll. Das Bestehen eines Aktienmarketes steht also nicht im Wiederspruch mit einer Verringerung des Mitspracherechts vom Kapital in der Vollversammlung.

Die Regeln, unter denen der freie Markt operiert, unterliegen politischer Kontrolle. Die Politik entscheidet über die Form des Wirtschaftssystems und übernimmt somit auch die Kontrolle über dieses System. Da der freie Markt wie ein wildes Tier karikiert werden kann, liegt es bei den Staatsorganen, es im Schach zu halten. Es gibt einige Fälle in denen aus volkwirtschaftlichen Gründen der freie Markt regelrecht versagt. Beispiele sind die sogenannten “Externalitäten” wie Umweltverseuchung, ‘common goods’, monopolistisches Handeln von Firmen und Aspekte der Produktqualität. Hier müssen die Staatsorgane eingreifen, nicht nur um den Konsumenten zu schützen, sondern auch den freien Markt selber. Firmen in diesem Markt sind ständig unzähligen Rahmenbedingungen ausgesetzt ist, sei es das Beschaffen der Rohprodukte, die Besonderheiten der Maschienen, das Verhalten des Kunden, aber auch die Regeln die der Staat ihnen auferlegt. Die Arbeit der Firmenleitung besteht darin unter den Rahmenbedingungen den Profit zu maximieren, so dass wenn diese sich ändern, die Optimierungsaufgabe neu gelöst werden muss, um die neue Profitstrategie zu errechnen. Die staatliche Kontrolle über den Markt muß also so gestaltet werden, dass die dadurch entstehenden Bedingungen nicht “zu restriktiv” sind, um das Überleben der Firmen zu gefährden. Das Problem hier liegt zum Teil wieder beim ‘Kapital’, das nun entscheidet, was “zu restriktiv” und “Überleben” bedeutet. Sind es eine 20%ige Profitrate, oder reichen 2%? Wenn die Verteilung der Entscheidungsgremien in Firmen nicht nur beim Kapital läge, also Profitmaximierung nur eins von mehreren Kriterien wäre, dann sähe die Entscheidung, was “Überleben” heißt, sicherlich anders aus. Da die Politik die Entscheidungsgewalt hat, sich durch Regulierungen sowohl im Marktgeschehen als auch in Firmenprozesse einzuschalten ist es nicht auszuschließen, daß das Kräfteverhältniss des Kapitals reduziert werden könnte. Wie häufig ist dies eine Frage des politischen Willens.

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