der gendefekt des kapitalismus
Uwe Richter, Witten, Juni 2005

Das steht nicht im neoliberalen Märchenbuch der Wirtschaftspäpste: Deregulierte Finanzmärkte müssen zwangsläufig Werte vernichten. Die Notenbanker wissen das.

Der Markt hat immer Recht. So lautet das erste Gebot der liberalen Ökonomen. Es gilt vor allem für den Finanzmarkt, kommt er doch dem theoretischen Ideal am nächsten. Er ist transparent, jedermann zugänglich und liquide – das heißt, es findet sich fast immer ein Käufer oder Verkäufer. Was Außenstehenden gelegentlich undurchschaubar vorkommt, ist für den Gläubigen der Inbegriff der Effizienz. In Sekundenschnelle passen sich die Preise neuen Informationen an. Zu jedem Zeitpunkt sind die Vermögenstitel richtig bewertet, weil alle Daten wie künftige Gewinne, Inflation oder Wachstum im Preis enthalten sind. Die Finanzmärkte generieren somit Preise, die der Wirtschaft die richtigen Signale für die effiziente Kapitalverwendung liefern. So zumindest lautet das Credo der Effizienzmarkttheorie, das bis heute fast ungeteilt von der herrschenden Lehrmeinung vertreten wird.

Da mag es wie Frevel klingen, wenn immer öfter Notenbanker vor Blasen an den Finanzmärkten warnen. Seit dem Platzen der "New Economy Blase" widmen sich die Monatsberichte der Zentralbanken und die Reden der Geldpolitiker regelmäßig der Gefahr drohender Instabilitäten durch spekulative Übertreibungen. Doch die kann es auf effizienten Märkten per Definition nicht geben. Was nun? Haben die Märkte immer Recht, oder sind sie doch nicht so perfekt, wie es uns liberale Ökonomen weismachen wollen?

Von wegen rational: Kursverläufe gleichen Fieberkurven

Betrachtet man den Verlauf einzelner Aktienkurse oder ganzer Marktindizes, ähnelt das Bild kaum dem einer sich im Gleichgewicht entwickelnden Wirtschaft. Es sieht eher aus wie die Fieberkurve eines Patienten, der in unregelmäßigen Intervallen von heftigen Attacken geschüttelt wird. Die beobachteten großen Handelsvolumen, starke Preisschwankungen, kurz- bis mittelfristige Trends und spekulative Blasen stehen im Widerspruch zu dem, was man nach einer rationalen Informationsverarbeitung erwarten sollte. Deshalb spricht viel dafür, dass die Finanzmärkte zuweilen arge Schwierigkeiten haben, die richtigen Preissignale zu senden.

Schon seit geraumer Zeit erhält eine Forschungsrichtung in Theorie und Praxis starken Zulauf, die die Effizienzmarkttheorie verwirft: Sie nennt sich Behavioral Finance und postuliert, dass Anleger auch nur Menschen seien. Auch Anleger träfen ihre Entscheidungen nicht unabhängig von ihrer psychischen Verfassung und ihrem sozialen und institutionellen Umfeld. Werner De Bondt von der Universität Wisconsin und Robert Thaler von der Universität Chicago nennen "übersteigertes Selbstvertrauen" als wichtigen Grund für die Überreaktion an den Märkten. Menschen neigten dazu, ihre Fähigkeiten und die Qualität ihrer Informationen zu überschätzen. Erfolge in der Vergangenheit würden in die Zukunft fortgeschrieben, und Risiken würden unterschätzt. Robert Shiller von der Universität Yale verweist auf die Rolle der Medien, die durch selektive Berichterstattung Trends verstärken können. Ein Phänomen, das in der Verhaltensforschung als kognitive Dissonanz bezeichnet wird, spielt ebenfalls eine Rolle: Informationen, die die eigene Entscheidung bestätigen, erhalten ein größeres Gewicht als Informationen, die dies nicht tun.

Hinzu kommt: Die Leistung von Fondsmanagern wird oft relativ zum Abschneiden der Indizes oder Konkurrenten gemessen. Deshalb ist es aus Sicht der Fondsmanager riskant, sich gegen den Trend zu stellen, auch wenn sie ihn für übertrieben halten. Der Arbeitsplatz ist sicherer, wenn man sich später mit allen anderen geirrt hat, als wenn man kurzfristig der Einzige ist, der eine unterdurchschnittliche Performance vorweist. So entsteht Herdentrieb.

Aber auch ein Gedankenexperiment lässt an der praktischen Relevanz der Effizienzmarktthese zweifeln. Es hätte wenig Sinn, in einem Markt zu spekulieren, in dem die Preise zu jedem Zeitpunkt alle verfügbaren Informationen widerspiegeln. In einem solchen idealen Markt wäre jede Spekulation ein reines Glücksspiel. Geht man aber davon aus, dass die Händler ihre Kauf- und Verkaufsentscheidung immer rational begründen können, käme es im Idealfall eines perfekten Marktes zu der paradoxen Situation, dass die Handelsaktivitäten fast zum Erliegen kommen.

Der amerikanische Finanzmarktexperte Fischer Black hat festgestellt, dass es gerade die Ineffizienzen in der Preisbildung sind, die die Aktivität an den Märkten begründen und sie dadurch liquide machen. Investoren sind ständig einer Flut von unsicheren und sich widersprechenden Informationen ausgesetzt. So gibt es immer Anleger, die aufgrund von "Scheininformationen", auch noise genannt, handeln und die Preise von ihren fundamental gerechtfertigten Werten wegtreiben. Diese noise traders sind es, die den besser informierten Investoren einen Anreiz liefern, nach unter- oder überbewerteten Finanztiteln zu suchen, um die damit verbundenen Arbitragegewinne zu realisieren. Diese an sich stabilisierende Spekulation der besser Informierten versagt allerdings, wenn der Markt von noise traders dominiert wird. Die Behavioral Finance erklärt die Dynamik, die der Markt dann zeigt und dabei Preise hervorbringt, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Zum Schaden der Gesamtwirtschaft wird Kapital in wertvernichtende Produktionsprozesse gelenkt.

Folgt aus der Kritik an der Effizienzmarkttheorie, dass das kapitalistische System einen grundlegenden Defekt hat? Wer glaubt, man könne das System so weit deregulieren, bis es gemäß der liberalen Utopie des Idealtypus funktioniert, muss diese Frage paradoxerweise mit Ja beantworten. Wer jedoch davon ausgeht, dass die reale Welt einem von Unsicherheiten und Unwägbarkeiten geprägten Entwicklungsprozess unterliegt, darf nein sagen. Denn in einer solchen Welt erfüllen Finanzmärkte eine äußerst wichtige Funktion. Sie dienen der Verteilung von ebenjenen Risiken, die mit Unternehmungen in einer unsicheren Welt notwendigerweise verbunden sind. Jede Unternehmung hat ein spekulatives Element. Es wird heute unter der Bedingung investiert, dass sich der Unternehmenserfolg morgen auf einem ungewissen Markt erweisen muss. Über die Finanzmärkte werden diese Investitionen nicht nur finanziert, sondern auch die damit verbundenen Risiken auf viele Schultern verteilt. Die Bereitschaft, Innovationen durch Investitionen voranzubringen, hängt nicht nur vom Wagemut des Unternehmers ab, sondern auch von der Bereitschaft der Investoren, ihr Vermögen zu riskieren.

Die Trennung von Investor und Unternehmung, die die Entwicklung der Finanzmärkte seit der industriellen Revolution hervorgebracht hat, hat wesentlich zur Wohlstandssteigerung in den Industrieländern beigetragen. Liquide Finanzmärkte erlauben es dem Investor, sein individuelles Risiko nicht nur durch Diversifikation zu reduzieren, sondern auch durch die Möglichkeit, seine Anlageentscheidung jederzeit zu revidieren. Die Liquidität der Märkte ist aber nicht nur ihre Stärke, sondern gleichzeitig ihr Schwachpunkt. Je kostengünstiger der Handel mit Finanztiteln ist, desto eher treten kurzfristige Gewinnmöglichkeiten in den Vordergrund, die sich aus der Dynamik der Kursentwicklungen ergeben und nichts mit den darunter liegenden Realinvestitionen zu tun haben.

Etwas Sand im Getriebe schadet nicht

Eines schaffen deregulierte Finanzmärkte nämlich nicht: Sie können sich nicht selbst stabilisieren. Davon zeugen die geplatzten Blasen und Crashs der Vergangenheit. Dabei handelt es sich keineswegs nur um simple Marktkorrekturen. Aufgrund der finanziellen Verflechtungen der Unternehmen und Banken untereinander kommt es ebenso zu schwerwiegenden gesamtwirtschaftlichen Verwerfungen. Es ist fraglich, ob der Staat erst eingreifen soll, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, wie es angesichts der deregulierten Märkte verlangt wird. Immerhin erfordert eine solche Reaktion eine sehr expansive Wirtschaftspolitik. Und selbst dann kann ein gelähmtes Finanzsystem lange jedes Wachstum verhindern, wie die Malaise in Japan beweist.

Präventive Eingriffe in die Finanzmärkte sind ein schwieriges Unterfangen. Aber das Argument, Regulierung hemme per se die Effizienz der Märkte, läuft ins Leere. Die realen Kosten, die mit der Instabilität der Finanzmärkte verbunden sind, dürfen nicht unterschlagen werden. Wo die unsichtbare Hand ganz offensichtlich versagt, muss der Staat eine bessere Lösung suchen. Eingriffe, die Sand ins Getriebe der Märkte streuen, sei es über einen erschwerten Marktzugang, sei es über die direkte Verteuerung des Handels, widersprechen keineswegs der Logik der Marktwirtschaft. Es geht nur darum, die Kosten des instabilen Systems effizient zu verteilen.

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