„das internet ist nahezu kritiklos akzeptiert worden“

Interview mit dem Philosophen Walther Christoph Zimmerli, von Niels Boeing, Hamburg, Januar 2000

km 21.0 1999 wurde das Internet 30 Jahre alt. Leben wir schon in der Netzwerk-Gesellschaft?

ZIMMERLI Ja, und nicht nur, weil auf der Nordhalbkugel bereits 20 Prozent der Bevölkerung Zugang zum Internet haben, sondern auch, weil wir beginnen in Netzwerkbegriffen zu denken.

km 21.0 Wie äußert sich das?

ZIMMERLI Seit etwa 30 Jahren findet neben der wissenschaftlichen Verwendung des Netzwerkbegriffs, in der Neurologie oder den Wirtschaftswissenschaften, eine Verabschiedung der klassischen Vorstellung des Subjekts statt. Wir erwarten heute beispielsweise nicht eine Antwort, sondern ein "Feedback". Schon in der Sprache manifestiert sich, dass wir uns irgendwie als Teile eines großen kognitiven Systems betrachten. Wir sind eher Knoten in Netzwerken als autonome Individuen.

Zwischendurch hatten wir eine Hierarchiephase, mit der Vorstellung, dass einige etwas mehr Subjekte sind als andere, weil sie die Macht haben. Jetzt sprechen wir in der Wirtschaft von flachen Hierarchien, und im Hintergrund steht das Modell der Selbstorganisation. Hierarchien sind Maschinenordnungen, Selbstorganisationen sind biologische Ordnungen.

Dieser Verlust des Subjektbewußtseins ist aber vielen Menschen unheimlich.

km 21.0 Geht die Internet-Revolution womöglich zu weit?

ZIMMERLI Wir haben ganz andere Probleme, und die müssen wir uns sehr genau anschauen. Wir haben die Vorstellung, wir bewegten uns in eine Wissensgesellschaft hinein. Wir haben aber in unseren Hinterköpfen immer noch die Vorstellung, Wissen sei das, was man gelernt hat. Wenn Sie vergleichen, was die Studentengeneration weiß, dann werden sie feststellen, das geht ganz schnell zuende. Wenn sie dagegen fragen, was könnt Ihr - also sag uns doch mal, wann Karl der Große gekrönt wurde, würde die Generation unserer Eltern aus dem Gedächtnis sagen: "800“. Die nächste Generation wird antworten: "Ich kann Ihnen genau sagen, wie ich das rauskriege“, wird Sie zu ihrem Rechner holen und dort mit einer Suchmaschine die Antwort im Netz suchen.

Das heißt noch nicht, dass die weniger wüssten, nur dass der Ausdruck Wissensgesellschaft irreführend ist. Wir bewegen uns in eine Gesellschaft hinein, in der wir uns ganz stark abhängig machen von einem neuen Wissenstechnologiesystem. Das war früher auch so, ein richtiger Professor ohne Bücher ist nichts. Aber das ist noch lokal begrenzt auf Bibliotheken. Er kann es nicht von zuhause aus machen.

km 21.0 Entwickelt sich das Internet zu einem globalen Gedächtnis?

ZIMMERLI Sagen wir lieber Speicher. Der Unterschied zwischen Gedächtnis und Speicher ist der Ort. Das Web ist extern, und mehr noch, dort sind nicht nur Daten vorhanden, mit denen kann man auch noch etwas machen. Wir müssen nicht erst auf gentechnisch veränderte Menschen warten, um gewaltige Veränderungen in Bezug auf unsere kognitiven Leistungen zu beobachten. Die haben wir längst, und das obwohl das Internet die am schnellsten wachsende und am stärksten in unsere Wahrnehmungsfähigkeiten eingreifende Technologie der Weltgeschichte. Trotzdem ist sie nahezu kritiklos akzeptiert worden. Es gibt keine Anti-Internet-Bewegung, so wie es eine Anti-Gentechnik-Bewegung gibt. Nur das macht mir Sorgen.

km 21.0 Warum?

ZIMMERLI Man hat sich am Anfang neuer Technologien immer Gedanken gemacht. Auch bei den Computern war das so. Als Joseph Weizenbaum in den 80ern davor warnte, hatte er immer brechend volle Hörsäle. Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt, dass unser Rechner interaktiv ist, was damals als Problem gesehen wurde. Eliza, das PRogramm, das Weizenbaum geschrieben hatte, sollte zeigen, dass wir Programme schreiben können, die so reagieren wie Menschen. Das ist so selbstverständlich geworden, dass sich darüber niemand den Kopf zerbricht.

Das Interessante ist unsere kognitive Flexibilität, die Unmöglichkeit zu erkennen, jemals komplexe Computerarchitekturen zu begreifen, und dann damit umzugehen. Ich nenne das Nicht-Wissensmanagement.

km 21.0 Gehört dazu auch der Umstand, dass wir zwar inzwischen eine Milliarde Webdokumente haben, die User sich aber auf immer weniger Startseiten im Web konzentrieren?

ZIMMERLI Natürlich. Suchmaschinen oder E-Mail-Filter sind Beispiele für Nicht-Wissensmanagement-Strukturen. Anders geht's auch nicht. Nur ist da immer eine Gewinn-Verlust-Bilanz dabei. Die entscheidende E-Mail könnte bei den Aussortierten dabei sein. Oder: Wenn wir uns auf Suchmaschinen verlassen, haben wir denselben Effekt wie bei Schlagwortkatalogen in traditionellen Bibliotheken. Das sind menschengemachte Systeme, denen bestimmte Konzepte zugrunde liegen, wie man suchen muss und denen folgen wir.

km 21.0 Sie reden von Nicht-Wissensmanagement, während in letzter Zeit gerade Wissensmanagement gefordert wird.

ZIMMERLI Der Schritt von Information zum Wissen wird dort gemacht, wo Information angeeignet wird. Ich kann nicht gut sagen: "Ich weiß, was in der Datenbank ist", sondern: "Ich habe Zugriff auf das Wissen in der Datenbank", aus der hole ich mir eine Information heraus und die weiß ich dann.

Man sollte sich klarmachen, dass man nicht das managen muss, was man weiß – wenn ich weiß dass es regnet, habe ich kein Problem, damit umzugehen. Managen muss man dort, wo man nicht weiß, etwa morgens einen Schirm mitzunehmen, wenn man nicht weiß, ob es regnen wird.

km 21.0 Wie kann man Nicht-Wissensmanagement erlernen?

ZIMMERLI An unseren Universitäten gegenwärtig schlecht. Man muss während des Studiums darauf gestoßen werden, dass es Wissensgrenzen und jenseits derer Experten gibt. Hier in Witten-Herdecke hat jeder Student die Auflage, Seminare in einem begleitenden "Studium fundamentale" in den drei Kompetenzbereichen Reflexion, Kommunikation und Kreativität zu absolvieren. Wir wollen damit vermeiden, nur Fachspezialisten auszubilden. Damit gehören wir aber zu den wenigen Universitäten, die so etwas machen.

km 21.0 Nun betrifft aber schon die Universität nur einen Teil der Bevölkerung, die Anforderungen der Internet-Gesellschaft aber bald alle. Wie lernt der Rest, mit Nichtwissen und Internet umzugehen?

km 21.0 In vielen Schulen ist von Nicht-Wissensmanagement gar nichts zu spüren, da fängt man im Kurssystem schon früher an, die Leute zu spezialisieren. In der Tat steht und fällt aber die Funktionsfähigkeit der Demokratie damit, ob der einzelne Bürger eine kognitive Möglichkeit dazu hat. Wichtig wäre beispielsweise auch, bei Prüfungen – in der Schule und an der Uni – einen Internetzugang bereitzustellen.

km 21.0 Welche Probleme sehen Sie mit der Netzwerk- oder Internetgesellschaft auf uns zukommen?

ZIMMERLI Nehmen Sie die Prozesse gegen Microsoft. Die sehen zwar aus wie kapitalistische Antitrustprozesse, hinter ihnen steckt aber die berechtigte Befürchtung, dass Monopole, wenn sie sich auf Wissen beziehen, eine vollständige Beliebigkeit im Umgang mit Wissen implizieren. Es geht um mehr als nur eine hohe Marktkonzentration bei Browsersoftware und Betriebssystemen, sondern um die Möglichkeit, Zugänge zu Wissen zu versperren oder zu kanalisieren. Das braucht noch nicht einmal Microsoft zu sein. Schon jetzt haben wir in der Wissenschaft ein Problem, weil uns Forschungseinrichtungen in den USA nicht an ihre Daten heranlassen.

In Tat und Wahrheit ist es doch eine völlige Illusion zu meinen, wir hätten Zugriff auf alle Wissensbestände, nur weil ein paar wahnsinnig kluge Kids es schaffen, in gut gesicherte Datenbanken einzubrechen. Es könnte auch kluge Kids geben, die einige Bereiche des Internets völlig abschotten.

Das Verhältnis von Wissen und Können ist so, dass Sie Techniken, mit dem Internet umgehen zu können, auf einer sehr frühen Stufe lernen, so wie lesen und schreiben.

Können ist der Internetführerschein, das kann man „by doing“ lernen.

km 21.0 Wie können User lernen, die Information im Internet, die beispielsweise eine Suchmaschine ausspuckt, zu bewerten?

ZIMMERLI Das setzt viele verschiedene Fähigkeiten voraus, die nicht alle haben werden. Vielleicht reicht eine Relativierung der Vorstellung, wir würden uns in eine Wissensgesellschaft bewegen. Nur weil wir uns im Netz bewegen können, sind wir noch nicht der Polyhistor. Das ist dasselbe Problem wie bei meinen Studenten, die zu Vorlesungen mit Aufnahmegeräten anrücken. Einen Speicher anzulegen, heißt noch nicht, das zu wissen.

Die Vorstellung, dass dann, wenn wir Informationen speichern, es besser wüssten, ist eben falsch. Wir entfernen uns weiter weg vom Wissen, wenn wir möglichst viel speichern.

km 21.0 Das passiert aber doch mit dem Internet.

ZIMMERLI Exakt. Aber wenn man das einmal durchschaut hat, hat man nicht mehr diese Gelassenheit, im Prinzip wüsste ich's ja alles, weil ich weiß, wie ich dran komme. Ich muss mir klar sein drüber, dass ich mitunter 2 Stunden brauche, um an eine gewünschte Information zu kommen.

Wir werden eine Möglichkeit des vereinfachten Zuganges haben, das ist eine Frage des Könnens, und das kann trainiert werden. Aber wir haben ein entscheidendes Problem: Wir sind endlich. Alles, was wir können mit dem Internet, könnten wir nur. Wir können es de facto nicht, weil wir zu kurz leben.

WALTHER CHRISTOPH ZIMMERLI (geb. 1945) ist Philosoph, Techniktheoretiker und Präsident der Uni WittenHerdecke

Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien in der „Woche“ vom 21. Januar 2000



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