das internet-proletariat
verhindern
Niels Boeing, Hamburg, April
2000
Für kurze Zeit
schien es, als wäre die ganze Internet-Revolution nur ein
Spuk gewesen. Die Kurse zahlreicher Technologie-Aktien traten an
den Börsen die Talfahrt an. US-Online-Magazine sprachen von
einem "Blutbad". Unter den Opfern viele "Dotcom-Stars":
Aktien von CDNow. com, dem Musikvertrieb, oder Etoys.com, dem
Spielehändler, waren plötzlich nur noch ein paar Dollar
wert. Manch einer mag da klammheimlich gehofft haben, die alte
analoge behalte doch die Oberhand über die schwer fassbare,
chaotische Cyber-Welt.
Aber das Börsenbeben
war nicht der Anfang vom Ende, sondern das Ende vom Anfang der
Internet-Revolution. Die Vernetzung der globalisierten Welt ist
nicht mehr rückgängig zu machen - sämtliche
Branchen organisieren sich im Netz neu. Die glorreiche Epoche,
die nun vor uns liegen soll, beginnt allerdings mit einem
brisanten Handikap: dem "digitalen Graben" zwischen
denen, die "drin" sind, und jenen, die das Internet nur
aus Zeitungen und Fernsehen kennen.
Das sind drei
Viertel der Deutschen, fast vier Fünftel aller
Euroland-Bürger und 94 Prozent der Weltbevölkerung.
Diese Menschen haben noch nie eine E-Mail abgeschickt oder eine
Website durchsurft. Sie sind Internet-Analphabeten.
Das mag
herablassend, ja unerhört klingen, ist aber bittere
Wahrheit. Langfristig ist dies ebenso wenig hinnehmbar wie der
klassische Analphabetismus, der mit großem Einsatz bekämpft
wird. Denn wenn der größte Teil des relevanten Wissens
und der geschäftlichen Kommunikation ins Netz wandert und
nur noch per Browser abrufbar ist, werden diejenigen, die damit
nicht umgehen können, unweigerlich zum Internet-Proletariat.
Aufstiegschancen in den Zukunftsbranchen werden sie nicht haben.
"Die Menschen,
die in der Lage sind, sich im Internet zu bewegen und es für
ihre Zwecke einzusetzen, werden einen enormen Vorteil haben, der
sich selbst verstärkt", sagt Manuel Castells, Soziologe
an der US-Universität Berkeley. Letzteres ist der Schlüssel
zum wirklichen Verständnis des Internet-Zeitalters: In einem
Netzwerk stehen sämtliche Informationen automatisch allen
Beteiligten zur Verfügung. So wächst der Vorsprung der
Netzkundigen vor denen, die außerhalb des Netzes sind,
immer rascher.
Natürlich hat
jeder die Freiheit, sich gegen die neue Technologie zu
entscheiden. Doch das ist ein Luxus, den sich allenfalls Teile
der älteren Generation leisten können, die nicht mehr
im Berufsleben stehen. Wer sich fürs Netz entscheidet, muss
die Möglichkeit bekommen, internet-kundig zu werden.
Genau hier fangen
die Probleme aber an. Um ins Netz zu kommen, muss ein Rechner
her, der in Deutschland mit einem durchschnittlichen
Monatsgehalt, in Bangladesch sogar mit zehn Jahresgehältern
zu Buche schlägt. Weil selbst in den Industrieländern
viele Menschen diese Hürde nicht nehmen können,
beginnen einige Unternehmen Hardware zu verschenken. Ford und
Bertelsmann kündigen an, ihre Mitarbeiter mit PC und
Netzzugang auszustatten, die Deutsche Telekom will dafür
sorgen, dass es in jeder der 44 000 Schulen der Bundesrepublik
wenigstens einen netzfähigen Computer gibt.
Damit stehen diese
Unternehmen bisher ziemlich alleine da. In vielen Firmen herrscht
noch immer tiefes Misstrauen, genährt durch reißerische
Berichte über Angestellte, die Moorhühner auf dem
Bildschirm abknallen anstatt zu arbeiten. "Internet-Wissen
ist Herrschaftswissen. Also dürfen nur die Häuptlinge
ins Netz, die Indianer nicht", beschreibt der deutsche
Medienforscher Lutz Michel die Wirklichkeit in Deutschlands
kleinen und mittleren Unternehmen.
Diese Haltung ist
fatal. Denn, das belegt eine Umfrage der Woche zur
Internet-Nutzung, die deutsche Netzgemeinde ist kein digitaler
Freizeitpark. Kommunikation per E-Mail und Informations- und
Lernangebote werden etwa doppelt so häufig genutzt wie
Unterhaltung, Chatrooms oder Spiele. Doch neben der puren
Möglichkeit sich ins Netz einzuloggen umfasst
Internet-Fitness wesentlich mehr: den souveränen Umgang mit
Software, die Fähigkeit, diese an die eigenen Bedürfnisse
anzupassen und vor allem im Web die Spreu vom Weizen zu trennen.
Diese Fähigkeiten
müssen in Zukunft vor allem die Schulen heranbilden. Bislang
verfügen darüber die wenigsten Schüler, weil keine
Lehrkonzepte erarbeitet wurden und zu viele Lehrer selbst zu den
Internet-Analphabeten gehören. Gerade sie aber müssen
sich zu Wissens-Moderatoren weiterentwickeln, denn den Weg ins
Netz finden die meisten Schüler schon jetzt ganz allein. Es
richtig nutzen zu lernen, ist Aufgabe der Zukunft.
Von vollmundigen
Prognosen, Rechner und Software seien schon in Kürze so
idiotensicher in der Bedienung, dass es letztlich nur auf die
Informationskompetenz ankomme, sollte man sich allerdings nicht
blenden lassen. Bis dahin werden noch viele Jahre vergehen - und
wir gezwungen sein, uns mit fehlerhaften Programmen und Fragen
der Datensicherheit auseinander zu setzen. Verzichten wir auf
diese beschwerlichen Seiten der Internet-Alphabetisierung, laufen
wir Gefahr, dass das Internet eine ebenso undurchsichtige
Mega-Technologie wird wie die Gen-Technologie.
Wer aber finanziert
diese zweite Alphabetisierung? Ein viel versprechendes Modell
kommt aus Skandinavien, neben den USA die am stärksten
vernetzte Weltregion. So verschenken etwa die größten
dänischen Banken PCs an ihre Mitarbeiter unter der Auflage,
dass diese innerhalb von zwei Jahren den Europäischen
Computerführerschein erwerben - ein europaweit anerkanntes
Zertifikat über Kenntnisse und Fertigkeiten zur Computer-
und Internet-Nutzung. Die Ausgaben für die Ausbildung ihrer
Mitarbeiter können die Banken von der Steuer absetzen. In
Deutschland ist das nach derzeitigem Steuerrecht leider unmöglich
- hoffentlich nicht mehr lange.
Eine leicht veränderte
Version des Textes erschien in der Woche vom ?
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