das ende der netzpubertät
Niels Boeing, Hamburg, Juni 2001

Das Internet tot - es lebe das Internet! Oder hatte wirklich jemand ernsthaft geglaubt, das wär's gewesen? Mit dem Ende des Dotcom-Hypes verschwinden auch einige andere Allüren des Netzes und weichen einem neuen Realismus. Für die User wird das von Vorteil sein.

Was war das für eine Rallye: Der Zusammenprall von Bigbusiness, Punk und Informatik gebar die New Economy und bescherte den USA den längsten Wirtschafts-Boom aller Zeiten. Hipster wie Craig Kanarick, Gründer der legendären Web-Agentur Razorfish, konnten mit blau gefärbten Haaren gestandenen Vorstandsvorsitzenden erklären, wie Ökonomie im Zeitalter des World Wide Web wirklich funktioniert. Die legten anschließend ihre Krawatte ab und glaubten, das Internet ändere alles. Doch dann kamen der Absturz der Dotcom-Aktien, die Pleiten der Start-up-Firmen, die Entlassungen - und binnen kurzem wurde "New Economy" zum Stigma. Nun gehört es fast zum guten Ton, zu sagen: Das Internet ändert eigentlich nichts. 37 Millionen Bundesbürger meinen auch in Zukunft auf das Netz verzichten zu können, wie die jüngste Studie der Initiative D21 ermittelte.

Die werden sich noch umschauen. Denn das Netz wird ja nicht einfach wegen Verschuldung und Missmanagement geschlossen. Es ist die neue technische Infrastruktur für Wirtschaft und Verwaltung, die in weniger als einem Jahrzehnt für mehrere Hundert Milliarden Euro errichtet worden ist. Finanziert zum großen Teil von einer Öffentlichkeit, die als Aktionäre den Erbauern dieser Infrastruktur "fanatisch Geld in die Hände schaufelten", wie sich Andy Grove, Silicon-Valley-Veteran und Vorsitzender des Chip-Giganten Intel, kürzlich in "Wired" wunderte.

Und so wie das Ende der 68er-Proteste nicht einfach die Adenauer-Ära restaurierte, sondern in die entschieden liberaleren Siebziger mündete, zeichnen sich jetzt, da sich der Staub des Dotcom-Zusammenbruchs legt, erste Umrisse der neuen Online-Welt ab:

Technik: einfacher und standardisierter
e-Commerce: professioneller, serviceorientierter und, nun ja, auch teurer
Privacy: immerhin problembewusster und mit mehr Schutzmöglichkeiten für User
e-Demokratie: realistischer und bürgerfreundlicher
Fazit


Technik

stop Als in den 80ern der PC zum Büromöbel wurde, glaubten viele, der Kampf mit Hard- und Software werde immerhin nicht in ihr Privatleben eindringen. Es kam viel schlimmer: Das Internet fügte dem noch den Kampf mit den Seiten des World Wide Web hinzu, und das in den eigenen vier Wänden.

Da zwängten sich aufwändige Bilder und Werbebanner durch ohnehin überlastete Internetzugangsleitungen, führten unverständliche Menüs in die Irre und Links ins Nichts, und nach zehnmal Durchklicken in einem Online-Shop fühlte sich mancher User, als habe er sich in einem zehnstöckigen Parkhaus verlaufen. "Grafik steht immer noch zu sehr im Mittelpunkt. Aber der Webhype kam ja auch aus der Grafik-Ecke", sagt Verena Giller, Geschäftsführerin von CURE (www.cure.at) in Wien, das die Benutzbarkeit von Informationssystemen erforscht. Viele Seiten seien nach wie vor überfrachtet mit Informationen. Die Struktur von Websites sei zu oft der Struktur der Unternehmen nachgebildet, die den User überhaupt nicht interessiere. "Je größer der Konzern, desto schlimmer", so Giller.

Der berüchtigte "Browserkrieg" zwischen David Netscape und Goliath Microsoft – den der Softwareriese mit einem Marktanteil seines Internet Explorers von ca. 80 Prozent längst gewonnen hat – komplizierte die Lage lange Zeit zusätzlich. Jeder baute in den eigentlich universellen HTML-Standard für den Aufbau von Webseiten Elemente ein, die das Programm des Konkurrenten nicht richtig verarbeiten konnte. Hier unterschied sich das Web nicht von den Anfangstagen anderer Technologien, etwa dem Kampf um den Standard für Videorecorder.

forward Während schlechtes Webdesign nach wie vor sein Unwesen treibt, dürfte der Krampf konkurrierender Standards der Vergangenheit angehören. "Es ist schon erstaunlich, welcher Konsens jetzt herrscht", sagt Klaus Birkenbihl, der das World Wide Web Consortium (www.w3c.de) in Deutschland repräsentiert. Die technische Basis der Zukunft ist die Datensprache XML, die – anders als das bisherige HTML - Inhalte und Darstellung fein säuberlich trennt. Eine Neuerung, die nicht nur von akademischem Interesse ist. Denn XML ermöglicht zwei künftige Großbaustellen im Internet: die "Web Services" und das "semantische Web".

Web Services verbinden verschiedenste Computerarten über das Internet, die bislang nicht direkt miteinander kommunizieren konnten, etwa den Großrechner mitsamt Datenbank eines Konzerns, den PC eines Büroangestellten und das Internet-Handy eines Außendienstmitarbeiters. Damit soll der elektronische Handel zwischen Unternehmen, der schon jetzt 80 Prozent des E-Commerce-Umsatzes ausmacht, erst richtig in Fahrt kommen.

Für den Normaluser interessanter ist das semantische Web, an dem der Brite Tim Berners-Lee, Erfinder des WWW, und andere Forscher bereits arbeiten (www.sciam.com/2001/0501issue/0501berners-lee.html). Es soll eins der Hauptprobleme des Internets deutlich erträglicher machen: Dass Suchmaschinen in den Millionen Seiten zu selten die gewünschte Information finden. Künftige Webinhalte werden, für den User unsichtbar, im Seitencode mit ausgeklügelten Markierungen versehen, die Begriffen einen Kontext hinzufügen. "Kohl" wird so, für Suchmaschinen klar erkennbar, entweder als Altkanzler oder als Gemüse gekennzeichnet.

Im Verbund mit weiteren schon existierenden Technologien wie der Universal-Programmiersprache Java und dem Prinzip von Rechner-zu-Rechner-Netzwerken – bekannt durch die heiß umstrittenen Musiktauschbörsen Napster und Gnutella bekannt – sehen die IT-Trendforscher von Forrester Research dann sogar eine ganze neue Stufe des Internets heraufziehen: das "X-Internet". Das X steht für "executable", ausführbar. Webserver schicken nicht mehr nur Seiten, sondern auch kleine ausführbare Programme mit. Die sollen etwa dem Online-Shopper das Leben leichter machen: Wer mehrere Bücher kaufen will, klickt nicht mehr für jedes auf Kauf-Buttons, sondern zieht die Abbildungen der Buchcover einfach mit der Maus in seinen Online-Warenkorb – genauso wie wir heute selbstverständlich auf PC-Oberflächen Dateien zwischen Ordnern hin- und herbewegen.


e-Commerce

stop "Märkte sind Gespräche" lautete der erste Satz des Aufsehen erregenden Cluetrain-Manifests (www.cluetrain.org) von 1999, das das Selbstverständnis des modernen Digital-Konsumenten umriss. Online-Märkte waren offenbar besonders schwierige Gespräche, denn so richtig mitteilsam wurden viele Firmen gegenüber ihren potenziellen Internetkunden bislang nicht.

Kontakt-Email-Adressen oder Hotline-Nummern verstecken sich noch zu oft in abgelegenen Winkeln der Firmensites – wenn sie nicht gar fehlen. In einer im April veröffentlichten Studie von egain.com, US-Hersteller von Kundenservice-Software, war dies bei knapp 20 Prozent der untersuchten Unternehmen der Fall. 45 Prozent der erreichbaren Firmen schafften es nicht, die E-Mail eines Kunden innerhalb von fünf Tagen zu beantworten. Aus realen Geschäften würde jeder spätestens nach 3 Minuten der Missachtung durch die Verkäufer wütend rausrennen.

Der Umkehrschluss – nämlich Online-Shops mit ewig grinsenden virtuellen Verkäufern ("Avataren") zu bevölkern, die dem User dank "künstlicher Intelligenz" die Produkte erklären – war allerdings ebenso fragwürdig. Wollte man sich mit diesen Bitwesen etwa schon wieder den Kunden vom Leib halten? "Avatare werden nicht akzeptiert werden", ist sich Matthias von Bechtolsheim, Mitglied der Geschäftsleitung der Unternehmensberatung Arthur D. Little, sicher.

Die anderen Sargnägel im Dotcom-Hype sind schnell aufgezählt. Die Finanzierung von Informationsangeboten und reinen Web-Dienstleistungen durch Online-Werbung ist gescheitert: In den USA ist der Preis für tausend Banner-Klicks auf bis zu 70 Cent gefallen. Online-Handel ohne eine funktionierende, also teure Logistik aus Lagern und Lieferservice in der echten Welt ist unmöglich. Und irgendwie soll ja auch bezahlt werden: mit Software wie dem unlängst abgeblasenen "e-cash", die erst zuhause installiert werden muss? Bitte nicht. Mit Eingabe der Kreditkartennummer? Ungern. Also kaufen viele dann doch im Laden.

forward Zurück zum Start: Nutzungsgebühren, seit Jahren eigentlich verpönt, kommen wieder. Yahoo-Deutschland-Chef Peter Würtenberger dachte auf der Internet World 2001 in Berlin laut darüber nach, und erste Online-Services wie die Echtzeit-Übersetzungshilfe Babylon oder die Surfhilfe Quickbrowse führen sie schon ein. So wird Babylon mit allen Funktionen im Jahresabo rund 20 Dollar kosten, wer nichts zahlen will, bekommt eine abgespeckte Version.

Wer keine Bits, sondern reale Waren verkaufen will, muss den umgekehrten Weg gehen: Den Kunden Geld schenken – und zwar die Zugangskosten für die Zeit, die sie im Online-Shop verbringen. Zumindest hierzulande, wo Flatrates dank der Monopolmacht der Deutschen Telekom auf der "letzten Meile" wieder vom Markt verschwunden sind. Der US-Versandhändler Land's End bietet deutschen Usern seit 6 Monaten über eine 0800-Einwahlnummer kostenfreies Stöbern im Produktsortiment . Ergebnis:"Free-Surfer verbringen ein Drittel mehr Zeit auf den Landsend-Seiten, als Kunden, die ihre Verbindung selbst zahlen", sagt Marketing-Chef Frank Kriegl. Die Aufmerksamkeit, des Users, das scheue Reh, so lockt man es also hervor. Unter www.surf0800.de gibt es bereits ein Mini-Portal, von dem aus man gebührenfrei 9 Online-Shops betreten kann – darunter auch Fleurop, den Old-Economy-Blumen-Versand.

Denn die bisherige Geschichte des Internets ist nicht zuletzt eine Revolte der Verbraucher. Eine doppelte Revolte. Die anfängliche Begeisterung über die neuen Angebote und Dienste im Netz war, bei aller spielerischen Neugier, eine schallende Ohrfeige für die hohlen Marketing-Phrasen der Old Economy. Am heftigsten saß diese bei der Musikindustrie. Der Run auf die Musiktauschbörse Napster war keinem mangelnden "Rechtsbewusstsein" geschuldet, sondern überteuerten Produkten, die an den Wünschen vieler Kunden vorbeiproduziert wurden.

Längst teilen die User auch in umgekehrter Richtung aus. Verspieltes Herumsurfen, das zeigen bislang alle Studien zum Nutzungsverhalten, weicht nach den ersten Monaten des Online-Seins einem sachlichen, kurz angebundenen Umgang mit dem Web. Wer nicht kinderleichte Bedienung, erstklassigen Service und sichere Bezahlung bietet, kann seinen Server gleich wieder vom Netz nehmen.

Online zahlen klappt, wenn es idiotensicher ist, nicht im Netz manipuliert werden kann und an Vertrautes anknüpft. Beispiel Paybox (www.paybox.de): Hier wird der User, der sich mit Kontonummer bei Paybos angemeldet hat, beim Online-Bezahlen auf seinem Handy angerufen und bestätigt den Vorgang durch Eingabe eines PIN-Codes. Ähnlich funktioniert Firstgate: Hier gibt man – ebenfalls nach einer Offline-Registrierung der Bankverbindung –auf eigens dazwischengeschalteten Bezahlseiten im Online-Shop sein Firstgate-Kennwort ein.

Dritte Lösung: Prepaid-Karten, wie es sie schon seit Jahren für das Telefonieren gibt. Einfach die 16-stellige Geheimzahl freirubbeln und im Online-Shop eingeben, der Betrag wird dann vom Kartenguthaben (z.B. 50 Mark) abgezogen. Die österreichische Paysafecard kommt ab Mitte Juni auf den Markt, die Telekom will im Herbst mit der "Micromoney"-Karte nachziehen. Dass Bertelsmann die Paysafecard (www.paysafecard.com) unterstützt, ist kein Zufall. Denn für Content-Anbieter könnte dies die ideale Technik werden, um Kleinstbeträge von beispielsweise 90 Pfennig für einen Artikel einzuziehen – Beträge, deren per Bankeinzug oder Kreditkarte ökonomisch unsinnig wäre.

Privacy

stop Das Internet hat einen Keller, in dem liegen Leichen – Datenleichen. Mit ihnen wurden bereits Milliarden von Mark umgesetzt. Denn von detaillierten User-Datensätzen erhofften sich Online-Händler Aufschluss darüber, wie man geizige Websurfer ansprechen muss, um den ersehnten Kaufreflex auszulösen. Erhoben werden die Daten nicht nur direkt bei einer Seitenregistrierung. Wer mit dem Browser eine Webadresse aufruft, übermittelt dabei auch Informationen über seinen Rechner und die benutzte Software. Der umstrittenste Sammler ist die legale, von Netscape entwickelte Technologie der "Cookies", kleine Dateien, mit deren Hilfe sich User identifizieren lassen und die im Verbund sogar Surfprofile erstellen können.

Zwar sind die Unternehmen in vielen Ländern, besonders in der EU, durch Datenschutzbestimmungen gehalten, die User über den Umfang der Datenhaltung und ihre Verwendung zu informieren. Dass das noch nicht so richtig klappt, belegte die Verbraucherschutzorganisation Consumers International in ihrem Anfang des Jahres veröffentlichten Privacy-Report (www.consumersinternational.org/news/pressreleases/fprivreport.pdf). Immerhin 42 Prozent von gut 500 untersuchten datensammelnden Sites hielten es nicht für nötig, über ihre Aktivitäten aufzuklären. Andererseits boten nur 16 Prozent den Usern die Möglichkeit, ihren Datensatz zu löschen.

Und nicht nur die Wirtschaft ist datenhungrig, auch Geheimdienste und Behörden wollen mit aller Macht eine lückenlose digitale Überwachung erreichen. Das Online-Magazin "Telepolis" berichtete kürzlich, schon jetzt würden t-online, AOL und einige kleinere Internet-Provider Strafverfolger unterstützen. Was bislang möglicherweise nur Gefälligkeiten sind, soll nach dem Entwurf der rotgrünen Koalition zur Telekommunikations-Überwachungsverordnung künftig Pflicht werden: Deutsche Provider müssten dann in ihren Servern und Routern – den Knotenrechnern, über die der Datenverkehr im Netz läuft – Schnittstellen installieren, über die Behörden mit geeigneter Software den E-Mail-Verkehr und die Webseiten-Aufrufe aufzeichnen können.

forward Ahnungslose Opfer sind die Internetnutzer allerdings nicht mehr. Privacy – das Recht, allein zu sein – ist inzwischen unter den surfenden und abstinenten US-Bürgern gleichermaßen Internet-Thema Nr. 1, zeigt der jüngste der alljährlichen Internet-Reports der Universität von Kalifornien in Los Angeles (www.ccp.ucla.edu/pages/internet-report.asp). "Das Datenschutzbewusstsein steigt", konstatiert auch Burkhard Nedden, Datenschutzbeauftragter von Niedersachsen.

Noch vor nicht allzu langer Zeit waren Normaluser den technischen Finessen der Datensammler mehr oder weniger ausgeliefert. Inzwischen stehen einige brauchbare Programme für sicheres Surfen und Mailen zur Verfügung. Einen Überblick gibt die Technikseite des von Schleswig-Holstein initiierten "Virtuellen Datenschutzbüros" (www.datenschutz.de/technik/themen/?id=1376). "Allerdings muss die Anwendungsfreundlichkeit solcher Software noch erheblich gesteigert werden", fordert Nedden.

Große Hoffnung setzen er und viele andere Privacy-Bewusste unter anderem in den P3P-Standard, den das World Wide Web Consortium im Dezember nach mehrjähriger Entwicklungszeit freigegeben hat (www.w3.org/P3P). Der funktioniert so, dass ein Webnutzer künftig in einem Formular seines Browsers einfach eintragen kann, welche Daten er preisgeben möchte. Dieses Formular wird dann vom Web-Server vollautomatisch mit der P3P-kompatiblen Privacy-Erklärung etwa eines Online-Shops verglichen. Sind die beiden Formulare im Konflikt, weil der Shop zu viel wissen will, poppt ein Warnfenster auf, und die Verbindung wird nicht hergestellt. Für User bietet YOUpowered.com ein Programm an, mit dem ein P3P-Formular ausgefüllt werden kann, Site-Betreiber können den P3P Policy Editor von IBM nutzen.

Unumstritten ist die P3P-Technik allerdings nicht. Die US-Organisation Epic (www.epic.org) warnt, der User könne "nur wählen, wieviel Privacy er aufgeben möchte, und nicht, wieviel er schützen will". Denn das P3P-Konzept verzichte darauf, Datenschutz notfalls auch juristisch durchzusetzen. Sites könnten vielmehr den User nach dem "Friss oder Stirb"-Prinzip zwingen, unzumutbar niedrige Standards zu akzeptieren oder mit einem leeren Browserfenster Vorlieb zu nehmen.

Als zweite wesentliche Schutztechnologie sieht Thilo Weichert, stellvertretender Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein, Systeme zum anonymen Surfen wie den "Java Anon Proxy" (www.anon.inf.tu-dresden.de). Dies ist eine an der TU Dresden entwickelte digitale Tarnkappe. Gibt man "unter" ihr etwa www.bol.de in das Adressfeld des Browsers ein, wird die Anfrage durch ein Netz aus Zwischenservern geschleust – der Server des Online-Buchhändlers kann die Spur zum User nicht mehr zurückverfolgen.

eDemokratie

stop Die Entdeckung der digitalen Neuen Welt war von Anfang mit einem Traum verbunden: Dass Politiker und Parteien außen vor blieben und die Demokratie zu ihren athenischen Wurzeln zurückkehre. Auf dem virtuellen Forum sollten alle die Tagespolitik diskutieren und auch gleich online über sie abstimmen können.

Doch spätestens seit der chaotischen Wahl der 5 Webnutzer-Repräsentanten für das Direktorium der "Netzregierung" Icann (www.icann.org) ist Ernüchterung eingetreten. Nur ein Bruchteil der vielen Millionen User registrierte sich, noch weniger gaben ihre Stimme ab, und ob sich wirklich die Wahlberechtigten mit Kennwort und PIN-Code einloggten, wurde nicht überprüft.

Der Giessener Politikwissenschaftler Claus Leggewie wies daraufhin, dass "e-Votes" im großen Stil zwei Kriterien demokratischer Wahlen nicht erfüllen: Sie seien weder geheim noch gleich. Abgesehen davon, dass aufgrund der Architektur des Netzes selbst bei Einsatz nicht knackbarer Verschlüsselungsverfahren 100prozentige Anonymität nicht zu gewährleisten ist (siehe auch Privacy-Abschnitt), haben nicht alle Bundesbürger Zugang zum Internet. So wird wohl die Online-Wahl irgendwann eine Alternative zur Briefwahl werden, aber nicht den Gang in die Wahllokale ersetzen.

forward In einer abgespeckten, nicht ganz so spektakulären Variante kann elektronische Demokratie allerdings Wirklichkeit werden. Zum einen bei Abstimmungsprozessen in überschaubaren Gemeinschaften wie Vereinen, ja selbst Kommunen. Hier seien die Sicherheitsanforderungen nicht so hoch wie bei einer Bundestagswahl, sagt Axel Zerdick, Medienökonom an der Freien Universität Berlin. Und im "e-Government" wird die Beziehung zwischen Bürgern und Behörden neu gestaltet. Mit der vor gut zwei Wochen in Kraft getretenen Neufassung des Signaturgesetzes ließe sich etwa die Ummeldung des Autos vom PC aus mit einigen Bits rechtskräftig unterschreiben.

Mag sein, dass viele Bürger dies nicht nutzen werden, weil, wie Kritiker einwenden, die technischen Voraussetzungen für elektronische Unterschriften zu umständlich und zu teuer sind. Aber zahlreiche Behörden richten im Internet bereits virtuelle Schalter und Wartezimmer ein. Dort muss niemand anstehen, nur um ein Formular abzuholen, und verqualmt sind sie auch nicht.

Dies passt genau mit einer Entwicklung der letzten Jahre zusammen, die sich ganz offline abspielt: die Einrichtung der Bürgerbüros. In ihnen legen Kommunen ehemals getrennte Ämter zusammen. Ganz gleich, ob man einen neuen Personalausweis, ein Gesundheitsattest oder einen Kindergartenplatz beantragen will, alles findet im selben Gebäude statt. Und demnächst auch auf demselben Server.

Lange galt das Internet als gesetzloser digitaler Wilder Westen, manifestiert in der "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace" (www.eff.org/~barlow/Declaration-Final.html) von John Perry Barlow 1996. Doch aus dieser sprach letztlich das elitäre, technikzentrierte Denken der kalifornischen Ideologie, in der man Informatikkenntnisse braucht, um seine Rechte online einfordern und durchsetzen zu können. Vom Durchschnittsuser ist das Welten entfernt. Und soll nicht jeder vom Internet profitieren können?

Hier hat die Wirklichkeit das Netz schon eingeholt: So regelt das Fernabsatzgesetz den Verbraucherschutz im Internet, ermöglicht das neue, Ende Mai in Kraft getretene Signaturgesetz entscheidend die bürgerfreundliche Online-Behörde. Sicher denkt man auch an Big Brother, wenn der Staat beginnt, das Netz zu regulieren. Doch die Ängste vieler Nutzer vor Datenmissbrauch und Abzockerei im Netz sind längst zu gravierend, als dass sie mit dem Versprechen der Selbstregulierung noch zu besänftigen wären.

Fazit

Das Internet wird erwachsen – na sagen wir, ein Twen.

Während klar wird, dass es in globalen Online-Märkten wie etwa Auktionen nur je zwei bis drei Anbieter geben kann, entstehen zahlreiche neue regionale Angebote. Vereine, Kommunen, Bürgerbüros, lokale Dienste, die über das Leben in der eigenen Stadt informieren, drängen ins Netz. Sie aber sind nicht im Cyberspace zu Hause, sondern im echten Leben verwurzelt. Ihr Vorteil: Sie kennen die Menschen, die ihre Angebote nutzen sollen. Das haben auch die großen Online-Marken begriffen, wenn sie sich zunehmend durch Kooperationen mit Old-Economy-Unternehmen oder durch den Aufbau echter Filialnetze "erden".

Wer aber künftig vom Netz leben will, muss Ansprüche meistern, die in Do-it-yourself-Technik nicht mehr machbar sind. Das neue Internet wird – man mag es bedauern – eine Sache für Profis, die liebevoll zusammengebastelte Homepage, die es zu Millionen im Netz gibt, dagegen zum virtuellen Schrebergarten. Marc Andreessen, der den ersten grafischen Browser Mosaic erfand und dessen Netscape-Börsengang die Stunde Null des Dotcom-Hypes war, brachte es im unlängst eingestellten Magazin "Business 2.0" auf den Punkt: "Das Internet wird nicht mehr so spannend sein." Ein geringer Preis, wenn es dafür endlich weniger elitär, weniger technizistisch und menschenfreundlicher wird.


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