die internet-lüge
Niels Boeing, Hamburg, Januar
2000
Nachtrag im Sommer 2002
Ein goldenes
Zeitalter sei nahe, tönt es durch Medien und Märkte,
ausgelöst durch das Internet. Ihm verdanken die USA
angeblich den längsten und nachhaltigsten Boom der
Wirtschaftsgeschichte. Es sieht so aus, als hätten sich im
Cyberspace unendliche Märkte aufgetan, die Rezessionen zur
historischen Kuriosität werden lassen. Grenzen könnten
bedeutungslos und die Wissensbestände zahlreicher Kulturen
zu einer globalen digitalen Bibliothek vernetzt werden. 30 Jahre
nach dem Beginn des Internets bleibt kein Bereich davon
unberührt.
- Beim Blick unter
die Oberfläche der Internet-Revolution macht sich jedoch
schnell Ernüchterung breit. Dabei ist es nicht mal wichtig,
dass gut 95 Prozent der Weltbevölkerung bislang überhaupt
nichts mit dem Netz der Netze zu tun haben. Das Internet hält
einfach einigen zentralen Erwartungen nicht stand, die von
findigen Web-Strategen bereits wie Wahrheiten verbreitet werden:
-
- 1. Das Internet
ist ein gewaltiger Markt, in dem man ein Vermögen verdienen
kann.
-
- Ein Vermögen
lässt sich bislang nur mit dem Verkauf von Ideen machen,
wie man im Internet Gewinn einstreichen könnte. Und selbst
das gelingt nur einem kleinen Teil der jungen, ehrgeizigen
Internet-Start-ups, von denen erst wenige im Netz-Business
schwarze Zahlen schreiben. Recht treffend werden in den USA die
monatlichen Ausgaben junger Internet-Unternehmen als burn rate
bezeichnet. Das Geld, das dort ohne baldige Aussicht auf Gewinne
"verbrannt" wird, ist Wagniskapital von Investoren,
die ihre Gewinne an der Börse machen.
-
Das entscheidende
Problem ist nur: Ausgerechnet Informationen lassen sich im
Internet nicht verkaufen, weil die Nutzer dafür nicht
bezahlen. Anbieter müssen sie also verschenken und Geld mit
Werbung oder Sponsoring verdienen oder sie auf ein
traditionelles Produkt draufsatteln, das dann über das
Internet verkauft wird. Amazon, der größte
Online-Buchhandel der Welt, verdient nicht einmal mit dem
Verkauf echter Bücher Geld.
-
Auch der
milliardenschwere Traum, Internet und Fernsehen zum perfek-ten
Heim-Entertainment zu verschmelzen, der die
AOL-Time-Warner-Fusion antreibt, wird in absehbarer Zeit nicht
zur Realität. Bislang haben erst 2 Prozent der Web-Nutzer
in den USA und gut 1 Prozent in Europa die benötigten
schnellen Netzzugänge. Viele der hierfür besonders
geeigneten Kabelfernsehnetze müssen mit
Milliardeninvestitionen überhaupt erst einmal
Internet-fähig gemacht werden.
-
- 2. Die
Börsenbewertungen von Internet-Unternehmen reflektieren das
grenzenlose Wachstums-Potenzial der Cyber-Wirtschaft.
-
- Die absurd hohen
Kurse stehen in keinem Verhältnis zur wirtschaftlichen
Substanz der Firmen, sondern resultieren aus einem
spekulationsfreudigen Goldrausch, teilweise auch nur aus einer
simplen Knappheit der Aktien. So werden nur 9 Prozent des
führenden Internet-Auktionshauses E-Bay frei an der Börse
gehandelt. "In den neuen Segmenten des Online-Marktes ist
Platz für maximal drei Anbieter", sagt Richard Spinks,
E-Commerce-Experte und Chef des Online-Dienstleisters Vavo.com.
-
- 3. Das Internet
schafft in Deutschland unzählige neue Arbeitsplätze.
-
- Das Gegenteil
könnte eintreten. Die zu erwartende Marktbereinigung im
E-Business und die Rationalisierungseffekte, die das Internet in
traditionellen Firmen hat, werden unter dem Strich das
Job-Wachstum der Inter- net-Branche aufzehren. Das Bonner
Marktforschungsinstitut Empirica rechnet sogar mit einem
Nettoverlust von 100 000 Arbeitsplätzen.
-
- 4. Die Preise für
den Internet-Zugang in Deutschland sind in den Keller gefallen.
-
- Zwar streichen
immer mehr Internet-Provider sämtliche Online-Gebühren,
so dass nur Telefongebühren bezahlt werden müssen.
Soll das Internet in Deutschland jedoch Massenmedium werden,
muss der Gebührenzähler im Rücken weichen: Es
liegt an der Deutschen Telekom, bundesweite flat rates zu
ermöglichen, also von der Surf-Dauer unabhängige
Internet-Pauschaltarife, wie es sie in den USA seit drei Jahren
gibt. Die wenigen flat rates, die derzeit angeboten werden, sind
zu teuer und regional begrenzt.
-
- 5. Das Internet
ist das aufregendste Kaufhaus der Welt.
-
- Das gilt nur für
den Bezahlvorgang: Vor allem deutsche Nutzer sind ganz
aufgeregt, wenn sie ihre Kreditkartennummer eingeben sollen,
bevor sie das Produkt in den Händen halten. "Im
Online-Handel werden 2500 Jahre monetärer Sozialisation auf
den Kopf gestellt. "Plötzlich heißt es: Erst das
Geld und dann die Ware", schimpft Thomas Egner, Chef des
E-Commerce-Softwareherstellers Open Shop. Erst vergangene Woche
sorgte der Diebstahl von 300 000 Kreditkartennummern aus der
Datenbank eines Online-Shops für Schlagzeilen.
-
Aber nicht nur das
Bezahlen ist im Internet heikel, auch das Bestellen: 88 Prozent
der Weihnachts-Onlineshopper, fand die Unternehmensberatung
Andersen Consulting heraus, brachen ihren virtuellen
Einkaufsbummel wieder ab, weil die Preise zu hoch waren, die
Internet-Verbindung zu langsam oder das Produkt vergriffen. Und
ein Großteil der Ware trudelte erst nach Weihnachten ein,
weil die Online-Versender hoffnungslos überfordert waren.
-
- 6. Im Internet ist
absolute Anonymität gewährleistet.
-
- Wer durchs Web
surft, hinterlässt im Gegenteil eine gut sichtbare
Datenspur, sei es durch Programme, die die Bewegungen von Usern
im Web analysieren, oder durch Kennnummern, die Software vom PC
während des Surfens an den Hersteller schickt. Vor allem
Kundendaten sind zur begehrten Ware im Web geworden, mit der
sich reine Informationsanbieter finanzieren. Umso mehr, als der
Einsatz von Werbebannern die Nutzer nervt und in absehbarer Zeit
nicht mehr als Finanzierungsquelle taugen wird. Für die
User könnte dies schon bald bedeuten: Entweder sie bezahlen
Online-Dienste und bleiben anonym, oder sie verzichten auf
Datenschutz und können Internet-Angebote weiter kostenlos
nutzen.
-
- 7. Das Internet
bietet die grenzenlose Freiheit, auf alle Informationen der Welt
zugreifen und sich mit jedem anderen Nutzer austauschen zu
können.
-
- Das ist blanke
Theorie. Richtig ist hingegen: Wer die Netzknoten kontrolliert,
hat die Macht im Web. Dort lassen sich Programme installieren,
die Websites blockieren, den Datenverkehr künstlich
verlangsamen und E-Mails aufzeichnen können. Und immer mehr
User reagieren auf die gigantischen Informationsmengen mit einer
freiwilligen Beschränkung auf die Top 100 des Web, die
Startseiten der großen Online-Dienste oder Suchmaschinen,
die sich mit Netzbetreibern und Medienkonzernen im Fusionsfieber
befinden. Anstatt sich auf Datenschutz und Anti-Kartell-Politik
zu konzentrieren, habe sich die US-Regierung um die
netzbedingten Copyright-Probleme von Hollywood gekümmert,
sagt Lawrence Lessig, Internet-Rechtsexperte an der Harvard
University. Und die Internet-Politik der rot-grünen
Koalition glänzt durch Visionen und Sonntagssprüche.
Obwohl das Internet so
rasant wie keine Technologie zuvor unser Leben verändert,
"gebe es keine Anti-Internet-Bewegung, so wie es
Anti-Kernenergie- oder Anti-Gentechnik-Bewegungen gibt",
wundert sich der Technikphilosoph Walther Christoph Zimmerli. Das
köntte sich rächen.
Eine leicht veränderte
Version erschien in der Woche vom ?
nachtrag
im dezember 2000
[zurück
zum Anfang] |