hiroshima der musikindustrie Stefan Krempl, Berlin, September 1999 Der Bundesverband der Phonowirtschaft vergleicht den Komprimierungsstandard mit der Erfindung der Kernspaltung. Die Atombombe sei explodiert, wie die sinkenden Umsatzzahlen bewiesen. Nun gehe es an die Erschließung der "zivilen Nutzung", bei der Technik und Politik behilflich sein sollen. Offiziell gibt sich die Plattenindustrie ganz cool: In einem Statement zum Internationalen Medienforum Berlin-Brandenburg, das parallel zur Funkausstellung Experten aus dem Rundfunk- und Internetbereich, aus Wissenschaft und Politik für drei Tage lang im Berliner ICC zusammenführte, bezeichnete Thomas Stein, Vorsitzender der Geschäftsleitung der BMG Entertainment International, das Internet "für uns als Segen". Allen Unkenrufen und allen Berichten über die Auswirkungen der digitalen Revolution bzw. von MP3 zum Trotz brauche es der Musikindustrie nicht bange zu sein. Schließlich hätten in den vergangenen Jahrzehnten Formatwechsel wie der Umstieg von Vinyl auf CD stets zu "explosionsartigen Umsatzzuwächsen" geführt. Doch die steinerne Fassade fiel, als der Chef des deutschen "Bertelsmann-Profitcenters" auf einem Podium des Medienforums zusammen mit Technikern, Juristen und Künstlern über die "Kosten" der MP3-Revolution diskutierte. Denn die trägt momentan die Tonträgerindustrie anscheinend selbst, zumindest fällt die wachsende Beliebtheit des Komprimierungsstandards MP3 zusammen mit nicht unerheblichen Umsatzeinbußen der großen Labels, die Stein weltweit mit 20 Prozent bezifferte. BMG selbst vermeldete für das im Juni abgeschlossene Geschäftsjahr am selben Tag zwar "nur" einen Umsatzrückgang um fünf Prozent auf 901 Millionen Mark. Doch der gesamte deutsche Tonträgermarkt brach im ersten Halbjahr 1999 um zehn Prozent ein. "Killer-Applikation" MP3 Die "Killer-Applikation" für die eigene Branche ist für Stein also tatsächlich MP3: "3 Millionen Musik-Tracks gibt es im Netz. Da kann man sich innerhalb einer Stunde Attraktives runterholen." Von Heino über Peter Maffay bis hin zu Hip-Hop oder Trash reiche das illegale Angebot, das mit Hilfe von Suchmaschinen leicht zu finden sei. Die Politik sei daher dringend gefordert, um dem geschäftsschädigenden Treiben ein Ende bereiten zu können. Einen wirksamen Schutz gegen die Piraterie, mit der MP3 gleichzusetzen sei, wünscht sich auch Peter Zombik, Vorsitzender der Geschäftsführung des Bundesverbands der Phonographischen Wirtschaft, von den Politikern. In Deutschland könne man dem Problem zwar einigermaßen Herr werden. So habe man in diesem Jahr bereits die Betreiber von 200 Servern abgemahnt, auf denen illegal kopierte MP3-Files lagerten. Schadensersatzforderungen habe man bisher noch nicht erhoben, da die meisten Piraten ihr Angebot schnell vom Netz genommen hätten. Theoretisch sei ein solcher Schritt aber durchaus vorstellbar. Dem Verband, der eine ganze Surfertruppe beschäftige, um die MP3-Server zu lokalisieren, macht die Frechheit ausländischer MP3-Fanatiker allerdings am meisten zu schaffen. "Es gibt einen russischen Server mit über 200.000 geklauten Titeln", empört sich Zombik. Man wüsste zwar genau, wo der Rechner stehe. Dichtmachen könne man ihn aber nicht, ohne sich mit der Mafia anzulegen. Und in Deutschland sei die Abrufbarkeit der Files nicht zu unterbinden. Zombik fordert daher von den Politikern, die Internetprovider zur Verantwortung zu ziehen . Die momentan vorgesehenen Regelungen in der überarbeiteten Richtlinie zum Schutz des Copyrights seien in dieser Hinsicht "ausreichend", da sie den Zugangsprovidern flüchtige Kopien untersage. So werde klargestellt, dass die Zwischenspeicher, die viele Provider für einen schnelleren Abruf von Inhalten bereitstellen, bereits den Tatbestand einer illegalen Datenübertragung erfüllen können. Die Internet Society (ISOC) hatte dagegen im März die EU-Kommission darauf hingewiesen, dass ein Verbot der Caches bei den Providern dem Internet das Backbone brechen könne. Ungeachtet dieser Befürchtungen will der Bundesverband der Phonowirtschaft auch zumuten, den Zugang zu einzelnen Servern direkt zu sperren. Das im eigenen Hause entwickelte "Right Protection System" mache Schluss mit dem Mythos, dass eine solche Kontrolle des Netzes "nicht gehe." MP3 und der Verfall der Kultur Die Folgen des von MP3 ausgelösten "Wildwuchses" sind aber nicht nur wirtschaftlich, glaubt Jürgen Becker, Vorstandsmitglied der GEMA. Der Jurist befürchtet eine "Verarmung der Kultur". Wenn das Geschaffene nicht mehr gewinnbringend vermarktet werden könne, "dann entziehen wir den Kreativen die Lebensgrundlage." Auch die GEMA schreibe ertappte Piraten daher mit der Bitte an, die Stücke doch entweder zu lizensieren oder vom Netz zu nehmen. Das sei zwar durchaus erfolgreich, aber letztlich sei das Medium auf diese Weise doch schwer zu kontrollieren. Ohne die Technik sei man daher "ganz arm dran." Was die Techniker losgelassen hätten, müssten sie nun wieder einfangen. Die Ausgeburt der Forscherhirne vergleicht Zombik sogar mit der Erfindung der Kernspaltung, dem Paradebeispiel für die ambivalenten Folgen der Wissenschaft: Momentan sei aus MP3 die Atombombe geworden, die "friedliche Nutzung" stehe noch aus. Die "Urheber" des Problems wissen auch noch nicht so richtig Rat. "Die Technologie lässt sich nicht zurückholen", stellt Martin Dietz, als Abteilungsleiter beim Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen für Audio und Multimedia zuständig, fest. Und wie jeder Forscher verteidigt sich der Bedrängte, dessen Institut federführend an der Entwicklung des MP3-Standards mitgewirkt hat, mit dem Argument, dass die Technik Anfang der 90er in der Luft gelegen habe. "Wenn wir nicht an dem Standard gearbeitet hätten, hätte es ein anderer gemacht", glaubt Dietz. So könne man auch Microsofts in Windows eingebetteten Media Player dazu verwenden, Raubkopien abzuspielen. Den Erfolg von MP3 hätte man auch nicht vorhersehen können: Das Verfahren sei ursprünglich für DAB, das digitale Radio, erfunden worden, dann aber über das Internet bekannt geworden. Und noch 1995 habe schließlich niemand mit dem Boom des Netzes gerechnet. Becker glaubt trotz dieser Beteuerungen, dass das Fraunhofer-Institut "in höchstem Maße leichtfertig" gehandelt habe. Die Technik allein kann die Player aus der Industrie nicht zusammenschweißen Ganz lassen die Techniker die Musikindustrie und die Verwertungsgesellschaften aber nicht im Stich. Um das eigene Baby zu "legalisieren", ist die Fraunhofer-Gesellschaft bei der Secure Digital Music Initiative (SDMI) schwer aktiv. Mit diesem gemeinsamen Vorstoss der Musik-, Computer-, Copyright- und Consumer-Electronics-Industrie, der im Juli zur Verabschiedung erster Prinzipien für die Sicherung von Musikinhalten auf tragbaren Abspielgeräten führte, will die Wirtschaft MP3 den Stachel ziehen und die ökonomische Verwertbarkeit von Musikprodukten weiterhin gewährleisten. "SDMI wird erhebliche Möglichkeiten schaffen", hofft Zombik. Ein Wundermittel gegen Piraterie ist SDMI allerdings nicht. "Bisher wurde nur ein Anforderungssatz für kryptographische Lösungen spezifiziert, aber nicht ein System selbst", weiß Dietz. Die unterschiedlichen Player seien daher nicht automatisch kompatibel, solange ein weltweiter Standard fehle. Auf den hätten sich die Abgesandten der verschiedene Interessen vertretenden Industrien allerdings noch nicht einigen können. "SDMI ist ein Sammelbecken, ein digitaler Container", ergänzt Zombik. Ob die Füllungstechnik dann MP3 oder Liquid-Audio oder sonstwie heiße, sei noch unklar, aber letztlich auch nicht entscheidend. Alle Macht den Künstlern? Oder: Die Angst vorm Kontrollverlust Schwer hatte es angesichts der vereinten Lobby-Macht der einzige Kreative auf dem Panel. Johnny Häusler, Geschäftsführer der Defcom Webdressing, wollte sich zwar keineswegs vom Urheberrecht verabschieden, doch MP3 auch nicht verteufeln. Der Medienmacher, der beim Potsdamer Jugendsender Fritz unter anderem das Chaosradio moderiert, sieht MP3 als nichts anderes als einen teils nützlichen, teils den Musikansprüchen der normalen Fans nicht genügenden Standard an. So stelle Fritz beispielsweise ganze Sendungen als ganz legalen MP3-Stream ins Netz, um Hörern den Abruf on Demand zu ermöglichen und das Format gleichzeitig aus dem illegalen Dunstkreis zu holen. Kleinen Radiosendern macht die GEMA den Schritt zur legalen MP3-Verwendung allerdings nicht leicht: 5 Mark für 30 Sekunden MP3-Streaming wollte die Verwertungsgesellschaft vor wenigen Monaten haben, die Lizensierung vollwertiger, auf andere digitale Geräte übertragbarer MP3-Files ist noch deutlich teurer. Überhaupt stolpere man im Web auch nicht über die raubkopierten Top-Ten-Hits, so Häusler, sondern müsse sie oft mühselig ausfindig machen. Und Raubkopien habe es schließlich schon immer gegeben. Wirklich neu an MP3 sei nur, dass zum ersten Mal ein Vertriebsweg für Musik nicht direkt von der Industrie kontrolliert werde: "Künstler können sich so völlig neue Verkaufswege selbst schaffen, ihre Musik zu selbstbestimmten Preisen verkaufen oder sogar verschenken." Innovative Musiktrends entstünden schließlich generell abseits der normalen Verwertungsketten. Derartige Überlegungen zu den langfristigen Auswirkungen der Digitalisierung auf den Musikmarkt scheinen in der Industrie, die von der Eigenvermarktung der Künstler genauso wenig wissen will, wie von sinkenden Preisen für Musiktitel, allerdings auf taube Ohren zu stoßen. "Wer sich einen PC für 5000 Mark kaufen kann, kann sich auch eine CD für 28 Mark kaufen", verfügte Stein. Dass die Preise für einen Multimedia-PC der gehobenen Standardklasse, der innerhalb weniger Minuten ein paar MP3-Files codiert, auf unter 2000 Mark gefallen sind, scheint dem BMG-Vertreter genauso entgangen zu sein wie die Tatsache, dass in den USA eine CD gut 10 Mark weniger als in Deutschland kostet und trotzdem die Künstler-Stars drüben zu den Reichsten der Reichen gehören. veröffentlicht am 13.9.1999 bei telepolis
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