die große filteroffensive
Stefan Krempl, Berlin, September 1999

Die "Konvergenzindustrie" will der "freiwilligen Selbstkontrolle" im Netz endlich zum Durchbruch verhelfen, doch Bürgerrechtsbewegungen fürchten um die freie Meinungsäußerung im Netz und beklagen die Zensurvorhaben.

Den großen Players der Medienindustrie, die aus dem Internet endlich ein ganz normales Massenmedium bzw. einen neuen Verwertungskanal für ihre Inhalte machen wollen, aber auch Politikern und Jugendschützern sind die Schmuddelecken des Cyberspace und seine "Alternativkultur" seit langem ein Dorn im Auge. Nachdem staatliche Zensurversuche - in den USA etwa mit dem berüchtigten Communications Decency Act - in westlich geprägten Demokratien weitgehend gescheitert sind, preschte die "Internetindustrie" jenseits des Atlantiks schon vor über zwei Jahren mit Ansätzen zur "freiwilligen Selbstkontrolle" vor, die letztlich auf der inzwischen standardmäßig in die gängigen Browser eingebauten Platform for Internet Content Selection (PICS) beruhen. Diese technische Spezifikation erlaubt im Zusammenspiel mit Bewertungssystemen für Netzinhalte wie dem vom Recreational Software Advisory Council (RSAC) die Filterung von Websites, die ein Surfer nicht sehen will oder soll.

Bisher dümpeln diese "Selbstregulierungsmaßnahmen" allerdings träge vor sich hin: Rund 100.000 Sites haben ihr Angebot nach den vorgegebenen Kriterien, die vor allem jugendgefährdende Inhalte wie Hardcore-Sex oder Gewaltdarstellungen kennzeichnen sollen, eingestuft. "Das sind weniger als 1 Promille der gesamten Internetangebote", weiß Friedemann Schindler von Jugendschutz.net. Unter den Pornoanbietern, die der Mainzer Verein in der Vergangenheit angesurft hat, war sogar kein einziger mit einem PICS kompatiblen Label ausgerüstet. Derartige Rating- und Filtersysteme sind deswegen momentan nicht geeignet, zieht Schindler den Schluss, den Jugendschutz im Netz zu gewährleisten.

Doch die Situation soll sich ändern, wenn es nach der im Mai gegründeten Internet Content Rating Association (ICRA) geht. Die erst im Mai gegründete Vereinigung, der sich Schwergewichte aus den "Konvergenzindustrien" wie AOL Europe, British Telecom, die europäische Providerlobby EuroISPA, IBM, Microsoft oder T-Online angeschlossen haben, will zusammen mit ihrem "Hauptsponsor", der Bertelsmann Stiftung, sowie der INCORE-Gruppierung (Internet Content Rating for Europe) nun über den Umweg Europa dem RSAC-Ratingsystem fürs Internet endlich zum Durchbruch verhelfen und das Netz zu einem Medium machen, in dem genauso wie beim Fernsehen Selbstkontrollsysteme greifen. Um dem Vorhaben den nötigen Nachdruck zu verleihen, hat die Stiftung des größten europäischen Medienhauses daher nicht nur bereits im vergangenen Jahr dem RSAC ihren Studienpreis verliehen, sondern jetzt auch rund 300 Politiker, Unternehmer und Netzexperten zum Internet Content Summit in die bayerische Landeshauptstadt eingeladen, in der bekanntlich das Recht und die Ordnung, die dem Internet angeblich noch abgehen, schon herrschen.

Von heute an diskutieren in München nun Ira Magaziner und Esther Dyson, beide als amerikanische Verfechter von Selbstregulierungsansätzen bekannt, zusammen mit Bundesinnenminister Otto Schily oder Wirtschaftsstaatssekretär Siegmar Mosdorf und Freiheitskämpfern wie von der American Civil Liberties Union über eine "neue Kultur der Veranwortung" sowie die "Rolle des Staates und internationaler Organisationen" zur Unterstützung der "Selbstkontrolle" der Industrie. Grundlage der zu erwartenden heißen Debatte bilden die Empfehlungen der "Experten" der Bertelsmann Stiftung, zu denen die Rechtsprofessoren Jack Balkin (Yale Law School, New Haven), Monroe Price (University of Oxford, Großbritannien), Herbert Burkert (Universität St. Gallen, Schweiz) sowie Ulrich Sieber (Universität Würzburg) gehören. Dabei geht es nicht nur um die Ratingsysteme, sondern auch um Hotlines als Alarmierungsmöglichkeiten für schockierte Nutzer oder die Rolle der Strafverfolger beim Jugendschutz im Netz.

Einigkeit in Zensurbestrebungen

Um den Worten auch Taten folgen zu lassen, haben die Veranstalter der Konferenz ein "Memorandum of Understanding" ausgearbeitet. Darin wird vorgeschlagen, dass Webanbieter ähnlich wie im Bereich Datenschutz, wo sich große Firmen wie DaimlerChrysler momentan eigene Richtlinien auferlegen, sogenannte Codes of Conduct ausarbeiten und sich so zur gewissenhaften Selbstbewertung ihrer Inhalte verpflichten. Internetprovider sollen gleichzeitig dazu angehalten werden, illegale Seiten nach Benachrichtigung durch Strafverfolger oder Hotline-Mitarbeiter von ihren Servern zu entfernen. Kern der in einem Zwölf-Punkte-Plan abgegebenen "Empfehlungen" für ein Selbstregulierung und Nutzerautonomie verbindendes System ist aber der Ruf nach einer verbesserten Architektur für das Bewerten und Filtern von Netzinhalten: Contentprovider sollen angehalten werden, ihre Inhalte mit Labels zu versehen, und Filter sollen allen Surfern dann die Möglichkeit geben, "die Inhalte besser auswählen zu können, die sie in ihre vier Wände lassen wollen."

Eingriff in den freien Informationsfluss des Internet

Wie bei allen bisherigen Vorhaben, das Netz mit Hilfe von Filtern "stubenrein" zu bekommen, sehen Bürgerrechtsvereinigungen weltweit die Bestrebungen der Industrie als weitreichenden Eingriff in den freien Informationsfluss des Internet an und erkennen den Teufel im Detail. Die Mitglieder der Global Internet Liberty Campaign (GILC) haben in einem Statement zum Münchner "Gipfel" bereits darauf hingewiesen, dass Rating- und Filtersysteme zwar zunächst als Alternative zu nationalen Gesetzesvorhaben zur Bereinigung des Netzes gedacht waren. Es habe sich aber schnell erwiesen, dass sie die Meinungsfreiheit weitgehend einschränken:

"Bei genauer Analyse kann man diese Systeme als fundamentale Änderungen der Netzarchitektur sehen, die die Unterdrückung der Redefreiheit weitaus besser ermöglichen als nationale Gesetze allein."

So wie in Australien mit dem Zusatz zum Rundfunkgesetz bereits erfolgt, könnten sich Regierungen ohne eigene Anstrengungen die dann bereits implementierten Strukturen für ihre Zensurbestrebungen nutzen und die Bewertungsprotokolle als Ergebnis der "freiwilligen" Arbeit der Industrie darstellen.

Die Welle der Empörung über das geplante große Filtern schlägt daher schonchohe Wellen, bevor die Ergebnisse des Kongresses auf dem Tisch liegen. Ist die Infrastruktur fürs Filtern erst einmal implementiert, beginnt "die Ära der als normal verstandenen Massenzensur", fürchtet Simon Davies von Privacy International. Als "äußerst erschreckendes Vorhaben" brandmarkt Chris Ellison, Gründer der britischen Vereinigung Internet Freedom, die Pläne zur "Selbstkontrolle" der Industrie. Seiner Meinung nach sind Ratingsysteme nichts weiter als ein technisches Mittel, "das jeden zum Zensor werden läßt." Nicht nur Regierungen könnten davon Gebrauch machen, sondern auch Internetprovider, Schulen oder Bibliotheken.

Marc Rotenberg, Leiter des Electronic Privacy Information Center (EPIC) glaubt sogar, dass die "freiwilligen" Bewertungssystemen von Netzinhalten von Grund auf zum Scheitern verurteilt sind: Es sei sehr unterschiedlich, wie Informationen von Individuen eingeschätzt würden. "Das hängt sehr stark vom Kontext ab und es ist schwierig, eine Bandbreite von Charakteren darauf zu reduzieren, was eine Person als akzeptabel betrachten könnte." Die ACLU hatte außerdem in ihrer Schreckensvision "Fahrenheit 451.2: Is Cyberspace Burning?" bereits vor längerem darauf hingewiesen, dass unter dem Ratingsystem vom RSAC der Kontext, in dem etwa sexuelles Material enthaltende Inhalte auftauchen, nicht beachtet wird. So werde beispielsweise nicht zwischen Lehrmaterialien und anderen Angeboten unterschieden. Selbst der Jugendschützer Schindler distanziert sich deswegen von derartigen Einstufungssystemen: Erfreulich sei zwar, dass theoretisch jeder die in einem Metatag in den Source-Code einer Site eingebauten Labels einsehen könnte, letztlich sei damit aber die Gefahr einer "flächendeckenden Kontrolle und der Blockade unliebsamer Inhalte möglich." In Ländern wie China und selbst zwischen einzelnen Firmen gebe es schließlich keine Einheitsmeinungen, was ein Zensurproblem wahrscheinlich mache.

Inwieweit die Kämpfer erfolgreich gegen den erneuten Filtervorstoß argumentieren können, ist angesichts des koordinierten und von der Politik begrüßten Vorgehens der Medien-, Telekommunikations- und Computerindustrie fraglich. Das von großen kommerziellen Konzernen "homogenisierte" und seiner "kulturellen Vielheit beraubte" Internet, das die GILC an die Wand malt, könnte so bereits in Grundzügen von der Industrie festgezurrt sein. Nicht umsonst treffen sich dieselben "Partner" schon am Montag in Paris wieder, wo es im Rahmen des ebenfalls weitgehend von Bertelsmann angeregten Global Business Dialog on Electronic Commerce erneut darum geht, den Cyberspace massenmediengerecht in den Griff zu bekommen.

Siehe auch: PICS - eine moderne Version der Zensur?

veröffentlicht am 10.9.1999 bei telepolis


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