der beginn des biomaschinenbaus
Niels Boeing, Hamburg, 2006

Die bisherige Biotechnik war nur Vorgeplänkel: Die Ingenieurswissenschaft bereitet unter in der "Synthetischen Biologie" nun die systematische Kolonisierung des Zellraumes vor. Selbstverständlich zum Wohle der Menschheit und für eine nachhaltige Entwicklung.
Die Zelle als Maschine
Was kann man damit machen?
Die kühne Vision vom künstlichen Leben
Die weiche Variante: Uminterpretation statt Umprogrammierung
Unbekannte Gefahren

Im Zeitalter der Wellness rufen Bakterien vor allem Abscheu hervor. Für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar, scheinen sie nur Krankheit und Schmutz zu bringen. Viele Zeitgenossen würden sich wohl nichts sehnlicher wünschen, als diese Lebensform ein für alle Mal auszutilgen. Doch einige Wissenschaftler haben Großes mit den Einzellern vor: Sie wollen aus ihnen perfekte Mikromaschinen konstruieren, die uns – wieder einmal – ungeahnte Möglichkeiten eröffnen sollen. Mehr noch, sie wollen das Leben noch einmal erfinden und es dabei gleich verbessern. Die Werkzeuge dazu soll das neue Forschungsgebiet der „synthetischen Biologie“ liefern.

„Es gibt derzeit eine ungeheure Begeisterung, voll funktionsfähige Zellen am Reißbrett zu entwerfen“, sagt Bioingenieur Drew Endy vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). Endy gehört zu einer noch kleinen Gruppe von Forschern, die vor allem in den USA die zweite Schöpfung ins Visier nehmen. So wie aus der Elektrizitätslehre die Elektrotechnik, aus der Mechanik der Maschinenbau hervorging, ist die synthetische Biologie für ihn die logische Weiterentwicklung der Wissenschaft vom Leben hin zu einer Ingenieursdisziplin: „Aufbauend auf bisherigen Arbeiten in der Gentechnik, versucht die synthetische Biologie, biotechnische Anwendungen im großen Maßstab zu erweitern und deren Design einfacher zu machen“, charakterisiert Endy diese Weiterentwicklung.

Dass der Mensch sich andere Lebensformen für seine Ziele zunutze macht, ist an sich nichts Neues. Aber anders als in der Vergangenheit, als man Tiere vor Wagen, Pflug oder Mühlrad spannte, sollen die Einzeller selbst zur durchkonstruierten Maschine werden.

Die Zelle als Maschine

Dieser Gedanke hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren entwickelt. Seit James Watson und Francis Crick 1953 die molekulare Struktur der DNS aufklärten, die den Bauplan eines Organismus enthält, ist die Biologie dazu übergegangen, die Zelle in den Metaphern des Industriezeitalters zu beschreiben. Längst werden die zwischen einem und zehn Mikrometer großen Gebilde als ehrfurchtgebietende winzige Fabriken gesehen. Mit einem Unterschied zu ihren großen Gegenstücken: Ihre Maschinen – und als solche gelten Zellbausteine wie Ribosomen oder Proteinketten – arbeiten vollautomatisch. Da ist niemand, der die Moleküle in Bewegung setzt, um die Lebensprozesse der Zelle zu starten und am Laufen zu halten.

In der Analogie der Fabrik sieht das vereinfacht so aus: Permanent werden in der Steuerzentrale (dem Zellkern) Bauanweisungen (Abschnitte des langen DNS-Moleküls) kopiert. Die Kopien (kurze Stränge von RNS-Molekülen) werden dann in der Fabrikhalle (im Zellinneren) verteilt. Dabei schwimmen sie in einer Flüssigkeit (dem Zellplasma), die die gesamte Fabrikhalle ausfüllt. Ein kleiner Teil der Kopien, etwa fünf Prozent, wird in eiförmige Maschinen gesteckt (die Ribosomen). In denen werden aus herbeigeschafften Komponenten (Aminosäure-Molekülen) die Hauptprodukte (Eiweiße, auch Proteine genannt) gefertigt: Werkzeuge, die Rohstoffe (chemische Verbindungen) anliefern und aufbereiten oder die Fabrik mit Energie versorgen.

Wie diese ungeheure Aktivität im Detail abläuft, verstehen die Biologen zwar noch nicht. Aber seit die Biotechnik die Grundbausteine des genetischen Codes aufschlüsseln kann – für über 200 Organismen ist das bereits gelungen –, wächst das Wissen, welche Genabschnitte welche RNS-Moleküle und Proteine codieren. Auch deren Zusammenspiel in regelrechten Netzwerken versteht man allmählich besser.

Genau hier setzt die junge Zunft der synthetischen Biologen an. Dem Maschinenparadigma folgend, werden Proteine und RNS-Moleküle als Bauteile begriffen, die der Mensch beliebig verändern oder einfügen kann.

Was kann man damit machen?

Was man damit jenseits bisheriger Anwendungen in Lebensmitteltechnik oder Pharmazeutik machen könnte, haben kürzlich der Biophysiker Christopher Voigt von der Universität San Francisco und Kollegen an einem einfachen Beispiel demonstriert: Sie veränderten ein Kolibakterium so, dass es an seiner Hülle einen lichtempfindlichen Sensor ausbildet. „Der Teil des Sensors, der auf Licht reagiert, kommt in Kolibakterien natürlicherweise nicht vor“, sagt Voigt. Indem sie aber ins Bakteriengenom chemisch zwei kurze DNS-Stränge einfügten, lösten sie die Produktion zweier Proteine aus, die die lichtempfindliche Komponente in dem Sensormolekül bilden. Fällt darauf nun Licht, wird eine chemische Reaktionskette in Gang gesetzt, die eine schwarze Substanz erzeugt. Ergebnis: Die belichtete Zelle färbt sich dunkel. Auf diese Weise verwandelt sich eine Kultur aus Hunderten von Millionen Kolibakteien „in einen biologischen Film“, so Voigt. Belichtet man den wie einen Film in einem Fotoapparat, verwandelt sich der Bakterienrasen in ein kontrastreiches Abbild des Objektes.

Nun braucht zu einer Zeit, da Digitalkameras die alten Fotoapparate verdrängen, niemand eine Neuerfindung des herkömmlichen Films. Darum geht es den Forschern auch nicht: Sie wollen mit derartigen Experimenten erst einmal den Ansatz der synthetischen Biologie vorführen. „Die ist in einem Stadium, in dem sich der klassische Maschinenbau vor 150 Jahren oder die moderne Halbleiterelektronik vor 30 Jahren befanden, als man anfing, Bauteile zu standardisieren“, sagt MIT-Forscher Drew Endy.
Deshalb haben er und die kleine Schar der neuen Zellingenieure im vergangenen Jahr das „MIT-Verzeichnis biologischer Standardteile“ aus der Taufe gehoben. In ihm sind gegenwärtig 2109 Gensequenzen gespeichert, die sich in diverse Zellmaschinenteile übersetzen lassen sollen. Und so wie Bastler im Elektronikfachhandel Widerstände, Transistoren oder Schalter kaufen, um aus ihnen zu mehr oder weniger nützliche Geräte zu bauen, entwerfen die Ingenieure des Lebens „Bio-Bricks“. Diese biologische Bausteine sollen die Zellen in Mikromaschinen verwandeln, die Informationen verarbeiten, Nanomaterialien herstellen oder medizinische Diagnosen vornehmen.

Den Prototyp eines zellinternen Schalters etwa haben Travis Bayer und Christina Smolke vom California Institute of Technology entwickelt. Er besteht aus RNS-Strängen, deren Form sich durch ein bestimmtes angelagertes Molekül so verändert wird, dass die Übersetzung eines Gens blockiert oder freigegeben wird. Genabschaltung wird in der Biotechnik zwar schon länger praktiziert. Neu ist aber die Idee, einen Schalter in die Zelle einzubauen, so dass er fortan automatisch ausgelöst wird – ohne dass Forscher noch in Aktion treten müssen. In den USA wird der Schalter in der üblichen Innovationseuphorie schon als Konzept gehandelt, mit dem Zellen eines Tages die Entstehung von Krebs quasi von selbst unterbinden können, sobald verdächtige Moleküle auftauchen. Die legen dann den Schalter um, der jene Genaktivität unterbindet, die aus gesunden Zellen Krebszellen macht.

Die kühne Vision vom künstlichen Leben

Während solche Konzepte Zellen nur als „Chassis“, wie Endy es nennt, nutzen, dessen eingebaute Maschinteile verändert werden, gehen Forscher wie Craig Venter – der Mann, der die Sequenzierung des menschlichen Genoms in einen medientauglichen Wettkampf verwandelte – einen entscheidenden Schritt weiter. Sie sind bereits dabei, komplette künstliche Zellen zu konstruieren. Mit Viren ist dies bereits gelungen: 2002 stellte Eckard Wimmer von Universität Stony Brook ein Poliovirus vor, dessen Genom vollständig synthetisch zusammengebaut wurde und in der Natur nicht vorkommt. Venter schaffte dieses Kunststück ein Jahr später in nur drei Wochen.

Nun arbeitet Venter an einem künstlichen Bakterium, das im Unterschied zu einem Virus größer und komplizierter aufgebaut ist. So enhält ein Kolibakterium rund 60 Millionen Biomoleküle. Weil Effizienz oberstes Gebot ist und die Komplexität der Natur offenbar als barock gilt, wollen die selbst ernannten Schöpfer jedoch ein „Minimalgenom“ kreieren. Der künstliche Einzeller soll gerade so viele Gene haben, dass es am Leben bleibt. Ausgangspunkt ist das einfachste bekannte Bakterium, Mycoplasma genitalium, das mit 515 Genen auskommt. „Unsere Studien deuten daraufhin, dass etwa 100 Gene jeweils für sich genommen verzichtbar sind“, schreiben Craig Venter, Clyde Hutchinson und Hamilton Smith in der Januar-Ausgabe des „Scientist“. „Aber wir wissen noch nicht, ob eine Zelle lebensfähig ist, wenn wir alle 100 auf einmal entfernen.“

Sobald das Minimalgenom erst einmal bekannt ist, sollte es möglich sein, so die drei Forscher, es zu synthetisieren und in einer zelllosen Umgebung zu „booten“ – in der Computersprache nennt man so das Hochfahren eines Rechners. Dazu umhüllt man das Genom mit einem Container aus Fettmolekülen, gibt die nötigen chemischen Grundstoffe hinzu, und schon soll die künstliche Zelle ihr Leben starten.

Falls es so einfach ist: Um was zu tun? „Etwa um Energie zu erzeugen oder neue Arzneimittel herzustellen“, sagt Venter. Das kennt man schon: Auch diese neue Technologie soll nichts weniger als die großen Probleme der Menschheit lösen. Für alle Skeptiker packt er vorsorglich eine rhetorische Keule aus: „Das größte Problem ist der erbärmliche Zustand der naturwissenschaftlichen Bildung. Wenn man aber die Wissenschaft nicht versteht, sind schlechte Gesetze die Folge, wie wir sie etwa in der Stammzellforschung haben.“ Wer das Konzept verstanden hat, muss eben begeistert sein.

Die weiche Variante: Uminterpretation statt Umprogrammierung

Derzeit scheint künstliches Leben nur ein amerikanischer Traum zu sein. In Europa wird hingegen an einer weicheren Variante der synthetischen Biologie geforscht. Hier geht es nicht um Umprogrammierung oder gar Konstruktion von Zellen: „Wir manipulieren mit der Interpretation des genetischen Codes“, sagt der Biologe Nediljko Budisa vom Max-Planck-Institut für Biochemie. Er fügt keine neuen Sequenzen ins Genom ein, um maßgeschneiderte Proteine zu bilden. Stattdessen zwingt er Zellen dazu, den natürlichen Code anders zu übersetzen.

In sämtlichen irdischen Lebensformen werden Eiweiße aus nur 20 verschiedenen Aminosäuren gebildet. Aber mit einem Trick kann Budisa ein Bakterium dazu bringen, auch eine andere Aminosäure einzubauen – etwa Aminotryptophan statt Tryptophan. Dazu wird chemisch ein Gen „ausgeknockt“, das für den Aufbauprozess von Tryptophan aus Atomen und kleineren Molekülen nötig ist. Folge: Die Zelle kann nur noch 19 der 20 üblichen Aminosäuren herstellen. Gibt man nun das chemisch sehr ähnliche Aminotryptophan in die Zellumgebung, wird es als Ersatz herbeigeschafft und von den RNS-Fähren ins Ribosom transportiert. Dort wird es dann in der Proteinsynthese überall dann verwendet, wo der Gencode eigentlich Tryptophan verlangen würde. „Wir setzen die Zelle einem Darwin’schen Selektionsdruck aus“, sagt Budisa. Weil sie überleben will, greift sie auf den Ersatzstoff zurück.

Die so gebildeten Proteine unterscheiden sich dann aber in der chemischen Struktur vom Original und können für andere Zwecke geerntet werden. Zwar weiß man schon seit langem, wie man mittels Zellmanipulation beispielsweise Insulin produzieren lässt. Aber mit seinem Verfahren könne man viel billiger und schneller als bisher biologische Substanzen herstellen. „Damit könnten sie über Nacht ein Kilo vom Dopingmittel EPO synthetisieren. Dann könnte sich das auch jeder Radsportamateur aus der Provinz leisten“, scherzt Budisa.

Unbekannte Gefahren

Das dürfte ein vergleichsweise harmloses Problem sein im Vergleich zum destruktiven Potenzial, das in der synthetischen Biologie steckt. Im Prinzip sei vorstellbar, hochinfektiöse Bakterien zu entwickeln, die etwa die Proteinfaltung von Menschen verändern und so tödlich wirken, warnt Budisa. Ergebnis wäre eine ganz neue Klasse biologischer Waffen. Auch seine amerikanischen Kollegen sind sich – bei aller Begeisterung – solcher Gefahren bewusst. „Aber die Diskussionen werden noch bruchstückhaft geführt“, räumt der Molekularbiologe George Church von der Harvard Medical School ein. „Wir müssen aus der Vergangenheit lernen“, betont er in Anspielung auf die Proteste gegen genmanipulierte Pflanzen und die Unfälle bei der Entwicklung von Gentherapien.

Dieser Satz fällt auch immer wieder bei den jüngsten Diskussionen um potenzielle Risiken der Nanotechnik. Was aber bedeutet er im Klartext? Church setzt zum einen auf isolierte Sicherheitslabore, zum anderen auf – die synthetische Biologie selbst. Man könnte Zellen so designen, dass sie außerhalb einer Laborkultur zugrunde gehen, schlägt er vor, weil sie nur dort die entscheidenden Nährstoffe bekommen, mit denen sie ihre Funktion erfüllen. Oder man programmiert ihnen eine Art Zeitzünder ein, der irgendwann automatisch den Zelltod herbeiführt.

Auf der im Mai 2006 abgehaltenen Konferenz „Synthetic Biology 2.0“ in Berkeley legten drei Wissenschaftler der Goldman School of Public Policy von der Universität Berkeley den Entwurf für eine 70-seitige Selbstverpflichtung für die Synth-Bio-Gemeinde vor. Titel: „From Understanding to Action: Community-Based Options for Improving Safety and Security in Synthetic Biology“.

Teil des Entwurfs waren Vereinbarungen, nach denen etwa ein System eingeführt werden sollte, in dem dubiose Bestellungen von Genmaterial bei entsprechenden Herstellern festgestellt und überwacht werden könnten. Die Gemeinde wurde außerdem dazu angehalten, zweifelhafte Forschungsarbeiten an eine zu schaffende Clearingstelle zu melden. Leider wurde der Entwurf nicht angenommen – wohl auch, weil Umweltgruppen massiv Front gegen das Papier gemacht hatten, das sie in einem offenen Brief als reines Ablenkungsmanöver werteten, um einer Regulierung zuvor zu kommen.

Steve Benner von der University of Florida glaubt dagegen an die Schutzwirkung der Evolution, die irdisches Leben in Millionen von Jahren gestählt haben: „Die dreißigjährige Erfahrung mit genetisch veränderten Organismen hat gezeigt, dass sie im Vergleich zu ihren natürlichen Gegenstücken in natürlichen Umgebungen weniger fit sind.“ Aber die Biomaschinenbauer wären keine guten Ingenieure, wenn sie diesen kleinen Konstruktionsfehler ihrer Geschöpfe nicht beseitigen wollten. Aus reiner Begeisterung natürlich.

[zurück zum Anfang]



© 2005 km 21.0 - diese Seite ist Bestandteil von www.km21.org