können maschinen
pizza backen?

Niels Boeing, Hamburg, April 2003

Für die Ernährung der Massen im 21. Jahrhundert gibt es zwei Modelle: die asiatische Garküche an jeder Straßenecke oder das industrielle Fertiggericht des Westens. Beide befreien von Kochkunst und Küche. Bei beiden weiß man nicht, worein man seine Zähne schlägt: Essensabfälle, Legehennen, Chemiecocktails, Geschmacksverstärker...? Doch während die Garküche zumindest den Charme des Ursprünglichen hat, ist das Fertiggericht die Ausdehnung der Technosphäre in die Speisekammer. Ein Grund, das ganze einmal unter die Lupe zu nehmen – am Beispiel der Tiefkühlpizza, der Deutschen liebstes Fertigfood.

Es muss im ersten oder zweiten Semester gewesen sein, als sich meine Geschmacksknospen einen ernsthaften Schock zuzogen. Damals hütete ich für verreiste Verwandte einige Wochen das Haus. Der Einladung, mich an der Tiefkühltruhe zu bedienen, kam ich als mittelloser Student gerne nach. Aber ganz gleich, welche Fertiggerichte ich auch aufwärmte, sie hatten alle diesen seltsamen intensiven Beigeschmack, der sich auch nach Stunden nicht verflüchtigt. Seitdem sind mir Tiefkühlfertiggerichte nie wieder auf den Teller gekommen. Erst recht keine "gefrorenen" Pizzen. Eine Pizza kann man nur beim Italiener essen, ganz klar.

Doch dann kamen der Euro, die Rezession und die Ich AG. Drei Gründe, vielleicht doch mal in die Tiefkühltruhe im Supermarkt zu schauen. Dort liegen Pizzakartons zu Kampfpreisen: 2 Euro 19, 1 Euro 59... Nach langem Ringen greife ich zu und fühle mich doch, als hätte ich ein Ideal verraten.

"Prosciutto Rucola Pesto". Das klingt sehr trendy, und die Packung mit der Lederrückenimitation und der altmodischen Zeichnung auf dem Cover soll wohl den Gourmet in mir hervorkitzeln. Die Rucolablätter finde ich zwar nicht, wohl aber grünes Gehäcksel, dazwischen liegen appetitliche Mozarellakügelchen, und der separat verpackte Schinken riecht tadellos. Das ganze schmeckt auch tadellos. Hab ich da was nicht mitbekommen - gibt's das jetzt ohne Chemie?

Als ich einige Wochen später bei der Wagner Tiefkühlprodukte GmbH im nördlichen Saarland von meinem verwirrenden Esserlebnis berichte und mich freimütig als langjähriger Skeptiker oute, geht ein Schmunzeln durch die Runde. Volltreffer: Die Produktlinie "La Pizza", zu der die Prosciutto Rucola Pesto gehört, ist eigens für Tiefkühlmuffel und intellektuelle Esser entwickelt worden. Eine so genannte Premiummarke. "Wir wollen handwerkliche Backkunst in industrielle Großserien umsetzen und dabei die Qualität halten", sagt Geschäftsführer Gottfried Hares.

Keine Spur von "Brust oder Keule"

Durchs Treppenhaus zieht immerhin der vertraute Duft einer Pizzeria. Mit Kittel und Haarhaube versehen wie in einem Labor, die Hände gewaschen und desinfiziert, betreten wir dann die Fertigungshalle. Endlose Förderbänder winden sich durch die Weite der Fabrik, verschwinden mit ihrer runden Fracht in Wandöffnungen, um an unvorhergesehenen Stellen wieder aufzutauchen.

Mit einer Pizzabäckerei hat das nichts mehr gemein. Es ist das Industriezeitalter pur: Der Teig wird in riesigen Trögen zurechtgeknetet, in kleine Klümpchen zerlegt und in Pizzableche auf dem Förderband gepresst, Tomatensauce wird von einem rotierenden Kamm verteilt, der Käse aus riesigen Quadern frisch über das Laufband gerieben, ab in einen endlos langen Ofen damit, aus dem nach einigen Minuten eine zart vorgebräunte Pizza hervorkommt. Meterlange Salamis werden geschnitten, die Scheiben fallen computergesteuert auf den Fladen, andere Zutaten folgen, ein paar flinke Hände korrigieren "Belegungslücken". "Wie in Louis de Funès 'Brust oder Keule' geht's nicht. Wir brauchen immer noch Menschen", sagt Klaus Riebel, der Leiter der Qualitätssicherung von Wagner, lächelnd, als ob er meine Gedanken erraten hätte.

Erstaunlicherweise haben auch die Zutaten überhaupt keine Ähnlichkeit mit der grauen Nahrungsmasse aus dem alten französischen Kinofilm. Im Gegenteil, hungrig greife ich hier ein Käsebröckchen vom Band, koste dort vom Hefeteig, knabbere am Speck - die Zutaten schmecken. Kurze Zeit später bei Konkurrent Freiberger Lebensmittelprodukte in Berlin dasselbe Bild. Einige Details der Produktion unterscheiden sich, die auf Tagungen Anlass für spitzzüngige Insider-Debatten sind. Aber auch hier keine Spur von "Brust oder Keule".

Selbst Acrylamid ist im beliebtesten Tiefkühlgericht der Deutschen in nennenswerten Mengen nicht zu finden. Ergebnis einer aktuellen Untersuchung der Zeitschrift Ökotest: Der letzte Schocker aus der unendlichen Lebensmittelgeschichte spielt auf dem Mozzarella keine Rolle. "Das ist die eigentlich Message des Tests: Tiefkühlpizzen sind im Vergleich zu Pommes Frites wirklich unbedenklich. Aber das schreibt Ökotest nicht", ärgert sich Freiberger Geschäftsführer Helmut Morent.

Viel ist passiert, seit vorgebackene Pizzaböden noch mit dem Geschmack eines "Trockenkekses", so Riebel, aus der Fabrik kamen. Wagner erfand 1985 die Steinofen-Technik für ein durchgeführtes Förderband. Dank der schlechteren Wärmeleitfähigkeit von Stein trocknete der Boden bei Backtemperaturen von 350 Grad nicht mehr von unten aus. Stattdessen schlossen sich die Teigporen, die Feuchtigkeit blieb erhalten, weshalb nun ein kurzes Anbacken ausreichte. Das Schockfrosten ermöglichte, die angebackene Pizza in kürzester Zeit auf minus 33 Grad hinunterzukühlen. Vorteil gegenüber dem klassischen, viel zu feuchten Tiefgefrieren: Es schlagen so gut wie keine kleinen Eiskristalle mehr auf die Zutaten, die dann Nährstoffe herauslösen.

Dazu kommen zahlreiche Qualitatsüberprüfungen, so genannte Audits, die jede Fabrik mehrere Male im Jahr über sich ergehen lassen muss. Ein "regelrechter Audit-Tourismus", wie Helmut Morent etwas unglücklich hinzufügt. Erst kam Ende der Achtziger Jahre ISO 9000, das deutsche unternehmensinterne Audit, später folgten das HACCP-System nach dem internationalen Codex Alimentarius sowie europäische Zertifikate. Vor allem der britische BRC-Standard hat die Sicherheitsanforderungen in der Produktion hochgeschraubt. Sämtliche Fensterscheiben in der Produktion sind nicht splitterfähig, mit Folie überklebt und in allgemein zugänglichen Lageplänen verzeichnet, Armbanduhren während der Arbeit verboten. "Die Briten haben hier einige Erfahrungen eingebracht", sagt Riebel.

"Dass man ranzige Fische auf der Pizza finden kann, ist Vergangenheit", bestätigt auch Urban Jörissen vom Hamburger Labor Wierz Eggert Jörissen, das für Handelsketten seit Jahren Tiefkühlpizzen auf ihre Inhaltsstoffe hin untersucht, den Trend.

Echt geschmackvoll

Also Entwarnung und ab zur Tiefkühltheke? Matthias Wolfschmidt von foodwatch traut dem Braten nicht: "Wir vermissen immer noch, dass die Industrie klipp und klar sagt, wie der Geschmack auf die Pizza kommt." Klaus Riebel von Wagner ist auch vor dieser Frage nicht bange. Geduldig und freundlich schleppt er in der Testküche des Hauses Beutel voller gefrorener vorgegrillter Zucchinis an, schneidet Käse- und Schinkenecken, lässt mich einen Löffel italienischer Schältomaten kosten.

Die werden nur von ausgewählten Lieferanten bezogen, deren Ernten vor Ort Riebel und seine Mitarbeitern kontrollieren. Nach dem Dampfschälen werden sie im eigenen Saft eingedost: Konzentrat plus Wasser plus Bindemittel gebe es nicht, sagt Riebel, das sei etwas für "Ketchup-Sozialisierte".

Aber Italien ist weit weg. Wieviel Transportkilometer liegen da auf der Pizza? Was ist mit Mehl, Schinken, Wurst, Käse...? Die kämen allesamt aus dem Südwesten der Republik, der Hinterschinken sogar vom Fleischlieferanten auf der anderen Straßenseite - übrigens mit null Prozent Fremdwasser und nur zwei Prozent Fett, wie Riebel stolz berichtet, während er an einer Scheibe knabbert.

Die Zulieferer werden scharf kontrolliert, sie müssen die Gentechnik-Freiheit ihrer Produkte - im Rahmen der derzeit geltenden, allerdings umstrittenen Nachweisgrenze von einem Prozent - belegen können. Sonderangebote von Zulieferern, mit denen keine Verträge bestehen, würden nicht angenommen. "Wir kaufen keine flottierenden Scampi aus einem geplatzten Geschäft", ist auch Freiberger-Chef Morent strikt. Gerade weil die Versorgungssicherheit so wichtig sei, arbeite man mit möglichst nahegelegenen Zulieferern.

Eine Studie des Öko-Instituts kam schon 1998 zu dem Ergebnis, dass der Verzehr einer Tiefkühlpizza weniger Emissionen von Kohlendioxid und Methan, der zwei wesentlichen Treibhausgase, verursache als eine selbst zubereitete Mahlzeit. Zwar galt der Vorsprung nur für eine Person, die alleine isst, aber
aber die rapide Zunahme der Single-Haushalte in deutschen Städten macht diese Betrachtung durchaus relevant.

Wie lassen Sie denn rieseln?

Nun gibt es aber in dieser unglaublich anmutenden Erfolgsgeschichte des lebensmitteltechnischen Fortschritts seit Jahresbeginn einen kleinen Missklang. Der kommt aus Bremerhaven, von einer Firma, die selbst gar keine Tiefkühlpizzen herstellt: Es ist das "Frosta-Reinheitsgebot". "Als wir vor zwei Jahren eine umfassende Kundenbefragung vornahmen, fanden wir zwei Hauptkritikpunkte: Die Verbraucher waren unzufrieden mit dem Geschmack und misstrauten den Zutaten in Tiefkühlprodukten", sagt Thomas Braumann, Vorstandsvorsitzender von Frosta. "Und seien Sie mal ehrlich, würden Sie Ihren Lieben, die am Sonntag zu Besuch kommen, ein Tiefkühlfertiggericht servieren?"

Weil nicht nur meine Antwort "nein" lautet, verzichtet Frosta - nach zweijähriger Entwicklungsarbeit - seit Januar auf sämtliche Zusatz- und Ersatzstoffe, die den Geschmack aufpeppen sollen. Ein beinhartes Programm: Kein Beta Carotin in der Butter, kein Carrageen in der Sahne, kein Nitritpökelsalz in der Wurst, ja nicht einmal Rieselhilfen fürs Speisesalz. Von Aromen, Bindemitteln und den berüchtigten "E-Stoffen" mal ganz abgesehen. "Frosta hat auf die ganzen faulen Tricks verzichtet, die in der Branche gang und gäbe sind. Mir ist kein Tiefkühlkosthersteller bekannt, der diesen Weg so konsequent gegangen ist", sagt Udo Pollmer, bekannter Lebensmittelchemiker und -kritiker, anerkennend.

Die faulen Tricks finden sich vielleicht nicht in der "La Pizza", doch in den billigen Handelsmarken-Pizzen – also Aldi, Lidl, Spar etc. – kommen oft gleich mehrere vor. Anders sind wohl deren Dumping-Preise nicht zu erklären, obwohl Helmut Morent versichert, dass der grösste Teil bei den Marketingkosten gespart werde. Die Handelsmarken würden schließlich, anders als die großen Marken wie etwa Wagner, Dr. Oetker Ristorante oder Alberto, nicht beworben.

Aber es ist eben nur der grösste Teil. Der Rest sind preiswertere Zutaten: Schmelzkäse statt Edamer oder Mozzarella, Plockwurst statt Salami, Formvorder- statt richtigem Schinken. Und preiswert heißt hier: ergänzt um Aromen und Stabilisatoren. "Die deutschen Verbraucher glauben immer noch, sie bekämen beim Discounter in jeder Hinsicht dieselbe Qualität für weniger Geld", staunt Verbraucherlobbyist Wolfschmidt. Und Heino Fangmann, Projektleiter Audits des Lebensmittelprüfers Fresenius in Taunusstein, lacht auf die Frage hin, ob "rein" besser sei: "In Befragungen sagen die Verbraucher immer, dass sie kein Nitritpökelsalz in der Wurst wollen. Wenn Sie dann aber graue Wurst im Regal liegen haben, wird die nicht gekauft."

Die industriellen Pizza-Bäcker halten die Frosta-Initiative indes für verzerrt. "Zusatzstoffe sind oft Extrakte aus Lebensmitteln", sagt Klaus Riebel und verweist auf das Beispiel Lecithin, das natürlicherweise in Eiern und Sojamehl enthalten ist. Dieses Argument will Pollmer nicht gelten lassen. Zwar komme der berüchtigte Geschmacksverstärker Glutamat natürlicherweise auch in Parmesan vor. Aber weil Parmesan teuer ist und einen nicht unerheblichen Eigengeschmack hat, wird eben isoliertes Glutamat zugesetzt. Das kann eine ganz andere Wirkung entfalten, etwa den unerklärlichen Drang, mehr und mehr vom selben zu essen - McDonalds lässt grüssen.

Die Magie einer Pizza

Können die Verbraucher ihrem Geschmack trauen? Ein wenig Empirie scheint mir vonnöten, und ich lade einige Freunde kurzerhand zu einem Dutzend Tiefkühlpizzen jedweder Preisklasse ein - von 99 Cent bis zu stolzen 4,39 Euro. Es sind ein paar regelmäßige Tiefkühlpizzakonsumenten dabei, aber ebenso Frischefanatiker. Und obwohl es kein wissenschaftlich harter Blindfold-Test ist, schält sich schon in diesem kleinen Sample ein Konsens heraus: Zwei Pizzen aus dem untersten Preissegment werden mit teils drastischen Kommentaren verworfen - "schmeckt wie ein Skihandschuh von innen riecht" -, drei hochwertige Pizzen machen dagegen das Rennen. "Der Spinat schmeckt nach Spinat" lautet hier das wohl höchste Lob, das ein Tiefkühlpizzaskeptiker zu vergeben hat.

In einem sind sich alle einig: Eine gute Pizza erkennt man an der Konsistenz ihres Bodens - und an diesem unbeschreiblichen Gefühl beim ersten Bissen. Selbst mit hervorragenden Zutaten scheint es, als blieben der Lebensmittelindustrie auf dem Weg zur perfekten Pizza noch zwei Hürden: die Magie und der Boden.

Der braucht nicht nur erstklassige Zutaten, sondern auch einen erstklassigen Ofen, weiß Michael Schlie, Inhaber des in Hamburg für seine hervorragenden Pizzakreationen gerühmten Restaurants Eisenstein. "Ich habe Freunden auch schon unsere Teigkugeln mitgegeben, die nicht glauben wollten, dass es der Ofen ist." Im heimischen Herd könne das einfach nie genauso werden wie in dem Spezialofen seines Restaurants, der stolze 400 Grad Celsius erreicht.

Wer je einen Pizzabäcker beim Kneten, Schlagen und Hochschleudern der mehligen Kugel gesehen hat, wird Ernst Ulrich Schassberger, Präsident der Initiative der Europäischen Chefköche Eurotoques, nicht widersprechen: "Der Teig braucht eine liebevolle Hand." In der Fabrik von Wagner bekommt jeder Teigklumpen immerhin einen kurzen mechanischen Knuff, bevor er ins Blech gedrückt wird. Aber ein echter Pizzabäcker kann da nur lachen. Für Pietro Dedonno, der in München dreißig Jahre eine eigene Pizzeria betrieben hat, ist die Sache ganz klar: "Der Teig ist wie ein kleines Kind. Man muss ihn schützen." So viel Gefühl bringt auch die vorbildlichste Fabrik nicht auf.

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